Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
durch ihre fruchtlosen Anstrengungen verloren. Als sie nun endlich einsehen mußte, daß sie nichts erreichen würde, daß die Verbrüderung der Schlechten und Gleichgültigen zu mächtig ist, entsagte sie mit derselben Entschlossenheit, die sie bisher an den Tag gelegt, allen weiteren Versuchen, zog in eine kleine Universitätsstadt und warf sich mit einem wunderbaren Eifer auf das Studium der Politik, der Jurisprudenz und der Nationalökonomie. Nicht als ob sie sich damit gegen die Welt verschloß, ganz im Gegenteil. Sie hatte ihre private Sache mit einer öffentlichen vertauscht. Ihre glühende Seele, für den Gedanken der Völkerfreiheit und der Menschenrechte entflammt, suchte Betätigung. Vor zwei Jahren heiratete sie einen unbedeutendenund keineswegs geliebten Mann; es geschah deshalb, weil sich der Mann, dem sie sich schon geweigert hatte, aus Leidenschaft zu ihr im Bade die Adern geöffnet hatte; er wurde gerettet und sie nahm ihn. Doch wurde die Ehe schon nach wenigen Monaten in friedlichem Einverständnis gelöst, der Mann ist nach Amerika gegangen und Farmer geworden. Meine Freundin fing abermals ihr merkwürdiges Wanderleben an; ich habe Briefe von ihr bald aus Rußland, bald aus Wien, bald aus Athen; seit einigen Monaten weilt sie in Ungarn. Überall untersucht sie die Lage der Bauern und die Not des arbeitenden Volkes, nicht etwa nur oberflächlich und empfindsam, sondern mit sachlicher Gründlichkeit; ihr profundes Wissen und ihre Kenntnis der Gesetze, Verfassungen und öffentlichen Einrichtungen hat schon manchem gelehrten Herrn Bewunderung abgezwungen. Sie ist heute fünfundzwanzig Jahre alt und sieht fast immer noch so aus wie auf diesem Bild, das vor sechs Jahren gemalt wurde. Nach alledem werden Sie mir wohl glauben, Mylord, daß bei ihr von orientalischer Weichheit und sanfter Leidensdemut nicht wohl die Rede sein kann. Sanft ist sie, ja sie ist sanft, aber ganz anders, wie man sich das gewöhnlich vorstellt. Ihre Sanftmut hat etwas Freudiges und Tätiges, denn es ist in ihr ein kühner Geist und ein erhabenes Vertrauen zu allem, was menschlich ist. Immer ist ihr die Gegenwart das Höchste.«
Ein lautloses Schweigen bezeugte der Erzählerin die tiefe Wirkung, die sie hervorgerufen. Und ist es denn nicht prächtig, ist es nicht prächtig-spannend und angenehm-gruselig, sichdergleichen im wohldurchheizten, hellerleuchteten Zimmer vorerzählen zu lassen? Der Mann am Kamin reibt sich gemütlich die Hände, wenn es draußen stürmt und wettert. Dem Mann am Kamin verursacht es ein süßprickelndes Behagen, wenn er sich vorstellt, daß draußen einige Leute ohne Überzieher und Handschuhe herumspazieren. Er, der Mann am Kamin, ist sogar imstande, mit solchen Unglücklichen auf das lebhafteste zu sympathisieren.
Caspar war, als Frau von Imhoff zu sprechen angefangen, etwas außerhalb des Zuhörerkreises gesessen, dann hatte er sich langsam erhoben, war näher gekommen, bis er an ihrer Seite stand, und hatte wie verzaubert auf ihren redenden Mund geblickt. Jetzt, da sie fertig war, lachte er plötzlich. Die Züge kamen in Bewegung und erhielten etwas unendlich Anziehendes. Frau von Imhoff gestand später, daß ihr ein solcher Ausdruck kindlicher Freude noch nirgends vorgekommen sei; ja, es glich dem Lachen eines kleinen Kindes, nur daß sich eine höhere und reinere Kraft des Bewußtseins darin zu erkennen gab und die Empfindung seines Innern mit den stärksten Farben malte. Die Umsitzenden waren neugierig, was er sagen würde, und beugten sich vor, doch er stellte nur die zaghafte Frage: »Wie heißt denn die Frau?«
Frau von Imhoff legte den Arm um seine Schulter und antwortete, gütig lächelnd, das zu verraten stehe ihr jetzt nicht zu, später vielleicht werde er es erfahren, auch an ihm nehme sie herzlichen Anteil.
Er blieb nachdenklich. Auch als die Geselligkeit wieder geräuschvoller wurde und das jüngsteFräulein von Stichaner am Klavier Lieder sang, behielt er seinen schief-besinnenden Blick. Sonderbar wurde sein Gefühl durch das so beweglich geschilderte Schicksal jener Unbekannten nach außen getrieben, und wie durch den Wink eines unsichtbaren Geistes öffnete sich zum erstenmal sein Herz den Leiden eines andern Ichs, einer fremden Existenz. Es kann doch nicht so mit den Frauen beschaffen sein, wie ich’s mir immer eingebildet habe, dachte er.
Das gab ihm zu denken. An irgendeinem Punkt erzitterte auf einmal der Bau der Welt, und ein zwiefaches Antlitz zeigten die Kreaturen: das eine
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