Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Ziegelwagen war vor dem Einfahren in ein Tor mit gebrochener Radachse umgestürzt und versperrte die Gasse. Casparwartete eine Weile, kehrte dann um und mußte nun durch die Würzburger Straße und über die Felder. Infolgedessen kam er zu spät. Als er vor dem Feuerbachschen Garten anlangte, war der Präsident schon weggefahren. Henriette und der Hofrat Hofmann standen am Gartentor und nahmen Caspars triftige Entschuldigung schweigend auf. Henriette hatte verweinte Augen. Sie blickte lange die Gasse hinunter, wo der Wagen verschwunden war, dann drehte sie sich wortlos um und schritt gegen das Haus.
Schildknecht
Der Mai brachte viel Regen. Wenn das Wetter es irgend erlaubte, wanderten Caspar und Frau von Kannawurf ganze Nachmittage lang durch die Umgegend. Caspar vernachlässigte plötzlich sein Amt. Auf Vorhaltungen entgegnete er: »Ich bin der dummen Schreiberei überdrüssig.« Was ihm von den maßgebenden Personen höchlichst verübelt wurde.
Der von Hickel neuaufgenommene und für die Dauer seiner Abwesenheit streng unterwiesene Bursche ward gleich zu Anfang so lästig, daß sich Frau von Kannawurf beim Hofrat Hofmann darüber beschwerte. Weniger aus Einsicht als um der schönen Frau gefällig zu sein, gestattete der Hofrat, daß Caspar seine Spaziergänge mit ihr allein unternehme. »Hoffentlich entführen Sie mir den Hauser nicht,« sagte er mit seinem fiskalisch-schlauen Lächeln zu der Sprachlosen.
Nun aber machte wieder Quandt Schwierigkeiten.»Ich bestehe auf meiner Instruktion,« war sein eisernes Sprüchlein. Eines Morgens erschien daher Frau von Kannawurf in der Studierstube des Lehrers und stellte ihn kühn zur Rede. Quandt konnte ihr nicht ins Gesicht sehen; er war vollkommen verdattert und wurde abwechselnd rot und blaß. »Ich bin ganz zu Ihren Diensten, Madame,« sagte er mit dem Ausdruck eines Menschen, der sich auf der Folter zu allem entschließt, was man von ihm haben will.
Frau von Kannawurf schaute sich mit gelassener Neugier im Zimmer um. »Wie verhalten Sie sich eigentlich innerlich zu Caspar?« fragte sie auf einmal. »Lieben Sie ihn?«
Quandt seufzte. »Ich wollte, ich könnte ihn so lieben, wie seine achtungswerten Freunde glauben, daß er es verdient,« antwortete er meisterhaft verschnörkelt.
Frau von Kannawurf erhob sich. »Wie soll ich das verstehen?« brach sie leidenschaftlich aus, »wie kann man ihn nicht lieben, ihn nicht auf Händen tragen?« Ihr Gesicht glühte, sie trat dicht vor den erschrockenen Lehrer hin und sah ihn drohend und traurig an.
Doch sie besänftigte sich schnell und sprach nun von andern Dingen, um den ihr erstaunlichen Mann besser kennen zu lernen. Ihr war jeder Mensch ein Wunder und fast alles, was Menschen taten, etwas Wunderbares. Deshalb erreichte sie selten ein vorgesetztes Ziel. Sie vergaß sich und überschritt die Grenze, die ein oberflächlicher Verkehr bedingt.
Quandt ärgerte sich nachher gründlich über seine nachgiebige Haltung. Was mag denn da wieder dahinter stecken? grübelte er. So oft diekleinen Briefchen von Frau von Kannawurf an Caspar kamen, öffnete er und las sie, ehe er sie dem Jüngling gab. Er brachte nichts heraus; der Inhalt war zu unverfänglich. Wahrscheinlich verständigen sie sich in irgendeiner Geheimsprache, dachte Quandt und stellte gewisse wiederkehrende Phrasen zusammen in der Hoffnung, damit den Schlüssel zu finden. Caspar wehrte sich gegen diese Eingriffe, worauf Quandt ihm mit ungewöhnlicher Beredsamkeit das Recht der Erzieher auf die Korrespondenz ihrer Pfleglinge bewies.
Schließlich bat Caspar seine Freundin, ihm nicht mehr zu schreiben. So unverfänglich wie die Briefe hätte der Lehrer auch, wenn er unsichtbar die beiden hätte belauschen können, ihre Gespräche gefunden. Es kam vor, daß sie stundenlang ohne zu reden nebeneinander her gingen. »Ist es nicht schön im Wald?« fragte dann die junge Frau mit dem innigsten Klang ihrer süßen Stimme und einem kleinen, vogelhaft zwitschernden Lachen. Oder sie pflückte eine Blume vom Wiesenrain und fragte: »Ist das nicht schön?«
»Es ist schön,« antwortete Caspar.
»So trocken, so ernsthaft?«
»Daß es schön ist, weiß ich noch nicht gar lange,« bemerkte Caspar tief, »das Schöne kommt zuletzt.«
Ihn machte der Frühling diesmal glücklich. Mit jedem Atemzug fühlte er sich eigentümlich bevorzugt. Wahrhaftig, daß es schön war, hatte er bis jetzt noch nie bedacht. Die seiende Welt schlang sich wie ein Kranz um ihn. Solang die Sonne am blauen
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