Caspar Hauser oder Die Traegheit des Herzens
Weile ruhig. Caspar legte sich auf die Seite, um weiterzuschlafen, da pochte es an seine Zimmertür. »Was gibt’s?« fragte Caspar.
»Machen Sie auf, Hauser!« antwortete Quandts Stimme.
Caspar sprang aus dem Bett und schob den Riegel zurück. Quandt, vollständig angekleidet,trat auf die Schwelle. Sein Gesicht sah im Morgengrauen grünlich fahl aus.
»Der Präsident ist tot,« sagte er.
In einem schwindelnden Gefühl setzte sich Caspar auf den Bettrand.
»Ich bin im Begriff hinzugehen, wenn Sie sich anschließen wollen, machen Sie rasch,« fuhr Quandt murmelnd fort.
Caspar schlüpfte in die Kleider; er war wie betrunken.
Zehn Minuten darauf schritt er neben Quandt auf dem Weg zur Heiligenkreuzgasse. Im Garten vor dem Feuerbachschen Haus standen Leute, die halb verschlafen, halb bestürzt aussahen. Ein Bäckerjunge saß auf der Treppe und heulte in seine weiße Schürze hinein. »Glauben Sie, daß man nach oben darf?« fragte Quandt den Schreiber Dillmann, der mit ingrimmigem Gesicht und tief in die Stirn gedrücktem Hut auf und ab ging.
»Die Leiche ist ja noch gar nicht in der Stadt,« sagte ein alter Artilleriehauptmann, an dessen Schnurrbart kleine Regentropfen hingen.
»Das weiß ich,« entgegnete Quandt, und er folgte etwas beklommen Caspar, der ins Haus eingetreten war. Im unteren Stock standen alle Türen offen. In der Küche saßen zwei Mägde vor einem Haufen Holz, das zu Scheiten geschlagen war. Sie schienen angstvoll zu horchen. Caspar und Quandt vernahmen eine durchdringende Stimme, die sich näherte. Sie sahen alsbald eine weibliche Gestalt mit hochgehobenen Armen durch eines der Zimmer laufen. Sie schrie vor sich hin wie rasend.
»Die Unglückliche,« sagte Quandt verstört.
Es war Henriette. Ihr Geschrei dauerte ununterbrochen fort, bis einige Damen erschienen, darunter Frau von Stichaner. Quandt begab sich mit Caspar an die Schwelle des Staatsgemachs. Die Frauen bemühten sich um Henriette, sie aber stieß jede mit den Fäusten von sich. »Ich hab’s gewußt,« schrie sie, »ich hab’s gewußt, sie haben ihn mir vergiftet, haben ihn vergiftet!« Ihre Augen waren blutunterlaufen, und ihr Blick war rot. Sie stürmte in ein andres Zimmer, das lose Nachtgewand flatterte hinter ihr, und immer gellender schallte ihr Geschrei: »Sie haben ihn vergiftet! vergiftet! vergiftet!«
Caspar hatte keinen andern Ruhepunkt für sein Auge als das Napoleonbild, dem er gegenüberstand. Es kam ihm vor, als müsse der gemalte Kaiser schon müde sein von der unablässigen majestätischen Drehung, die sein Hals machte.
»Lassen Sie uns gehen, Hauser,« sagte Quandt, »es ist zuviel des Jammers.«
Im Flur stand der Regierungspräsident Mieg im Gespräch mit Hickel. Der Polizeileutnant berichtete alle Einzelheiten der Katastrophe. In Ochsenfurt am Main habe Seine Exzellenz über Unwohlsein geklagt und sei zu Bett gegangen; in der Nacht habe er gefiebert, der gerufene Arzt habe ihm zur Ader gelassen und habe behauptet, die Krankheit sei bedeutungslos. Am Morgen darauf sei plötzlich das Ende eingetreten.
»Und welcher Ursache schrieb der Arzt seinen Tod zu?« erkundigte sich Herr von Mieg und verbeugte sich gleichzeitig, da Frau von Imhoff und Frau von Kannawurf an seine Seite traten. Frau von Imhoff weinte.
Hickel zuckte die Achseln. »Er glaubte an Herzschwäche,« erwiderte er.
Ungeachtet des frühen Morgens war schon die ganze Stadt auf den Beinen. Über dem Dach des Appellgerichts wehten zwei schwarze Fahnen.
Caspar blieb den Tag über in seinem Zimmer. Niemand störte ihn. Er lag auf dem Sofa, die Hände unterm Kopf, und starrte in die Luft. Spät nachmittags bekam er Hunger und ging in die Wohnstube. Quandt war nicht da. Die Lehrerin sagte: »Um vier Uhr ist die Leiche angekommen; Sie sollten eigentlich hingehen, Hauser, und ihn nochmal sehen, bevor er begraben wird.«
Caspar würgte an einem Stück Brot und nickte.
»Sehen Sie, wie recht ich damals hatte mit den Totenweibern,« fuhr die Lehrerin geschwätzig fort, »aber die Männer denken immer, alles geht so, wie sie’s ausrechnen.«
Der Flur des Feuerbachschen Hauses war angefüllt von Menschen. Caspar drückte sich in einen Winkel und stand eine Weile unbeachtet. Er zitterte an allen Gliedern. Der eigentümliche Geruch, der im Hause herrschte, benahm ihm die Sinne. Da spürte er sich bei der Hand gepackt. Aufschauend, erkannte er Frau von Imhoff. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie führte ihn in ein großes Zimmer, in dessen Mitte
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