Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
dass wir wieder fliegen konnten.
Xander liest es ein zweites Mal, mit stummen Lippenbewegungen. »Arzt«, sagt er leise und schmerzlich berührt. »Du glaubst, ich könnte Kranke heilen.«
»Ja, das glaube ich.«
In dem Moment kommen Kinder aus dem Dorf den Weg vor uns herunter. Gleichzeitig richten Xander und ich uns auf und folgen ihnen mit den Blicken.
Sie spielen ein mir unbekanntes Spiel, bei dem sie so tun, als seien sie ein Tier. Jedes Kind hat sich als etwas anderes verkleidet. Manche haben sich aus Gras ein Fell gemacht, andere ein Federkleid aus Blättern, wieder andere haben sich Flügel aus zusammengebundenen Stöcken und Wolldecken gebastelt, die heute Abend wieder abgenommen und zum Zudecken verwendet werden. Diese Zweckentfremdung natürlicher Materialien, um etwas Neues daraus zu erschaffen, erinnert mich an die Galerie, und ich frage mich, ob die Leute in Central einen neuen Treffpunkt für ihren Kunstaustausch gefunden haben. Oder haben sie keine Zeit mehr für so etwas, weil das Virus lauert und keine Heilung in Sicht ist?
»Wie es wohl gewesen wäre, wenn wir solche Möglichkeiten gehabt hätten?«, fragt Xander.
»Wie meinst du das?«
»Das zu sein, was wir wollten«, erklärt er. »Wie wäre es gewesen, wenn wir als Kinder so etwas hätten spielen dürfen?«
Solche Gedanken sind auch mir durch den Kopf gegangen, als ich durch die Canyons gewandert bin. Wer bin ich? Was ist meine Bestimmung? Ich habe wirklich großes Glück, dass ich trotz der Einschränkungen der Gesellschaft so viele verrückte Phantasien hatte. Teilweise natürlich, weil Großvater mir diese Flöhe ins Ohr gesetzt hat.
»Denkst du noch manchmal an Oria?«, fragt Xander.
Natürlich denke ich daran. An alles, und ich kann mich noch an jede Einzelheit erinnern. Ich sehe es wieder klar und deutlich vor Augen: wir beide, frisch gepaart, Hand in Hand im Airtrain. Meine Hand in seinem Nacken, als ich Kys Kompass in sein Hemd rutschen ließ, damit er das kostbare Artefakt vor den Funktionären versteckte. Schon damals taten wir drei alles für einander.
»Kannst du dich noch an den Tag erinnern, an dem wir die Neorosen gepflanzt haben?«
»Natürlich«, wiederhole ich. Ich denke daran, wie wir uns damals geküsst haben, zum ersten und letzten Mal, und das Herz tut mir weh, aus Wehmut und aus Mitgefühl für Xander. Der Wind hier oben in den Bergen weht auch im Sommer frisch. Er pustet uns durch, zerwühlt unser Haar, treibt uns die Tränen in die Augen. Mit Xander hier in den Bergen zu sein ist ähnlich und doch völlig anders, als mit Ky draußen in den Canyons am Abgrund zu stehen.
Ich greife nach Xanders Hand. Meine Handfläche ist schmutzig vom Schreiben mit dem Stock. Als ich sie betrachte und an Xander denke, damals mit den herunterhängenden Neorosenwurzeln in seiner Hand, während der Wind in den Bäumen raschelt und die Kinder zum Dorfplatz hinaufhüpfen, schwebt eine weitere pappelsamenleichte Erinnerung herbei:
Die Hände meiner Mutter sind voller schwarzer Erde, aber ich kann die weißen Linien ihrer Handflächen erkennen, als sie die Setzlinge herauszieht. Wir stehen im Gewächshaus des Arboretums; das Glasdach über uns und die schwülheiße Atmosphäre im Inneren lassen uns die frühlingshafte Morgenkühle draußen vergessen.
»Bram hat es rechtzeitig in die Schule geschafft«, erzähle ich.
Sie sagt: »Danke, dass du mir Bescheid gibst«, und lächelt mich an. An den wenigen Tagen, an denen sie und Papa früh zur Arbeit müssen, bin ich dafür verantwortlich, dass mein jüngerer Bruder pünktlich den frühen Airtrain zur Schule erwischt. »Wo gehst du denn jetzt hin? Du hast ja noch ein bisschen Zeit, bevor du zur Arbeit musst.«
»Vielleicht schaue ich mal bei Großvater vorbei«, sage ich. Heute kann ich ruhig von der täglichen Routine abweichen, weil Großvaters Letztes Bankett kurz bevorsteht. Und ich warte auf mein Paarungsbankett. Wir haben so viel zu bereden!
»Tu das«, sagt sie. Sie pflanzt Setzlinge aus den Röhrchen, in denen sie gekeimt haben und die in ordentlichen Reihen auf Tabletts stehen, in ihre neuen Behausungen um, kleine Töpfe mit Erde. Sie hebt einen Setzling heraus.
»Der hat aber noch nicht viele Wurzeln«, bemerke ich.
»Noch nicht«, erwidert sie. »Aber die kommen schon noch.«
Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange und mache mich auf den Weg. Es wird nicht gern gesehen, dass ich mich länger an ihrer Arbeitsstelle aufhalte, und ich muss meinen Airtrain erwischen. Dass
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