Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
ich mit Bram zusammen früh aufgestanden bin, hat mir etwas Zeit verschafft, aber nicht viel.
Der launische Frühlingswind schiebt mich hierhin, zieht mich dorthin. Er wirbelt einige der übriggebliebenen Herbstblätter hoch in die Luft, und wenn ich zum Airtrain-Bahnsteig hinaufstiege und hinunterspränge, würde er mich vielleicht trudelnd mit emportragen.
Immer, wenn ich mir vorstelle zu fallen, denke ich automatisch ans Fliegen.
Bestimmt könnte ich fliegen, wenn ich mir Flügel bauen könnte.
Als ich auf dem Weg zur Airtrain-Haltestelle das Dickicht des Hügels passiere, spricht mich eine Frau an, eine Arbeiterin mit Erde an den Knien ihrer Zivilhose, so wie meine Mutter nach der Arbeit. »Cassia Reyes?«, fragt sie. Sie ist jung, nur wenige Jahre älter als ich, und sie hält eine Pflanze in der Hand, von der Wurzeln herunterhängen. Jätet sie oder pflanzt sie?, frage ich mich.
»Ja?«, antworte ich.
»Ich muss mit Ihnen reden«, sagt die Frau. Ein Mann kommt hinter ihr den Hügel herunter. Er ist im selben Alter wie sie, und unwillkürlich denke ich: Sie würden ein schönes Paar abgeben . Ich habe nie die Erlaubnis erhalten, den Hügel zu besteigen, und betrachte das dichte Unterholz und die Bäume im Hintergrund .
»Wir möchten, dass Sie einige Daten für uns sortieren«, sagt der Mann.
»Tut mir leid«, erwidere ich, »ich sortiere nur bei der Arbeit.« Die beiden sind weder Funktionäre noch Vorgesetzte oder Aufseher. Sie wollen mich dazu bringen, die Regeln zu brechen, und das tue ich nicht, schon gar nicht für Fremde.
»Sie könnten damit Ihrem Großvater helfen«, behauptet die Frau.
Ich bleibe stehen.
»Cassia?«, fragt Xander. »Geht es dir gut?«
»Ja«, sage ich. Ich starre noch immer meine Hand an und wünschte, ich könnte die flüchtige Erinnerung damit festhalten. Sie hat mit dem Tag im roten Garten zu tun, da bin ich mir sicher, obwohl ich nicht weiß, warum.
Xander scheint noch etwas hinzufügen zu wollen, aber die spielenden Kinder kehren zurück, nachdem sie den Dorfstein ganz umrundet haben. Sie lärmen und lachen, wie es sich für Kinder gehört. Ein kleines Mädchen lächelt Xander an, und er erwidert ihr Lächeln und greift nach ihren Flügeln, als sie vorbeiläuft, doch sie dreht sich im entscheidenden Moment weg, und er greift ins Leere.
Kapitel 34
Xander
Oker ist so besessen, dass es fast unmenschlich erscheint. Ich will genauso unbedingt das Heilmittel finden wie er, doch bei ihm spielt noch etwas anderes eine Rolle. Schon nach wenigen Tagen habe ich mich an die Arbeit im Labor gewöhnt, die folgendermaßen abläuft: Wir arbeiten, wenn Oker es verlangt, und machen Pause, wenn Oker es erlaubt. Manchmal erhasche ich einen Blick auf Cassia in den Sortierräumen, aber die meiste Zeit stelle ich nach Okers Anweisungen Lösungen her.
Oker nimmt seine Mahlzeiten im Labor ein. Er setzt sich nicht mal hin. Wir folgen seinem Beispiel: Im Stehen sehen wir uns gegenseitig dabei zu, wie wir unsere Mahlzeiten hinunterschlingen. Wahrscheinlich liegt es an dem Stress und dem Arbeitsdruck, aber irgendetwas löst ständig einen Lachreiz bei mir aus. Die Gespräche beim Essen sind symptomatisch dafür, wie die medizinischen Versuche laufen. Oker unterscheidet sich von anderen Menschen dadurch, dass er schweigsam wird, wenn alles gutgeht. Läuft etwas schief, reagiert er gesprächiger.
Heute frage ich ihn: »Was ist eigentlich an Anderland so toll, dass ihr alle unbedingt dorthin wollt?«
Oker schnaubt. »Nichts«, antwortet er. »Ich bin zu alt, um noch mal neu anzufangen. Ich bleibe hier. Und ich bin nicht der Einzige, der nicht weg will.«
»Warum arbeiten Sie an dem Heilmittel, wenn Ihnen der Erfolgt am Ende nichts bringt?«
»Wegen meines inhärenten Altruismus.«
Ich muss lachen, doch er starrt mich grimmig an und sagt dann: »Ich will die Gesellschaft schlagen und das Heilmittel zuerst finden.«
»Aber die Gesellschaft gibt es doch gar nicht mehr«, erinnere ich ihn.
»Quatsch!«, schnaubt er, trinkt aus seiner Thermosflasche, wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab und schaut mich streng an. »Nur Narren glauben, dass sich irgendetwas verändert hat. Die Erhebung und die Gesellschaft haben sich so lange gegenseitig infiltriert, dass nicht mal sie noch wissen, wer zu wem gehört. Das ist wie bei einer Schlange, die ihren eigenen verdammten Schwanz frisst. Das Leben hier – hier draußen – ist die einzig wahre Rebellion.«
»Der Steuermann glaubt an die
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