Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
und erkannte die Wahrheit oft aus diesen ungewöhnlichen, unbequemen Blickwinkeln heraus.
»Ich möchte jetzt gleich etwas eintauschen«, sagte ich zu der Archivistin, die mich enttäuscht ansah, als sei ich ein Kind, das drauf und dran war, all diese empfindlichen, wunderschönen Blätter gegen etwas Glänzendes und Falsches einzutauschen.
»Was brauchen Sie?«, fragte sie.
»Einen Behälter«, antwortete ich. »Feuerfest, luftdicht und wasserdicht. Haben Sie zufällig so etwas?«
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, sie sah mich fast anerkennend an. »Natürlich«, sagte sie. »Warten Sie hier, es dauert nicht lange.« Und schon war sie wieder verschwunden.
Das war unser erstes Geschäft. Später erfuhr ich, wer diese Frau war, nämlich die führende Archivistin von Central City, die die Geschäfte beaufsichtigte und koordinierte, aber nicht oft selbst Handel trieb. Von Anfang an zeigte sie ein besonderes Interesse an den Gedichten, die Ky mir geschickt hatte, und ich habe seitdem immer wieder mit ihr zusammengearbeitet.
Als ich an jenem Abend wieder an die Oberfläche stieg, die Kiste voller Poesie in meinen kalten Händen, blieb ich einen Moment lang am Rand des Geländes stehen. Das Gras hob sich silbrig von dem grauschwarzen Schutt ab. Ich konnte nichts weiter erkennen als die weißen Plastikplanen, die die anderen Löcher bedeckten und schützten, bis die unterbrochenen Restaurationsarbeiten wieder aufgenommen wurden. Ich fragte mich, was an dieser Stelle gestanden hatte und warum die Gesellschaft den Versuch aufgegeben hatte, es neu aufzubauen.
Und wie ging es weiter? , frage ich mich. Wo habe ich die Gedichte hingebracht, nachdem ich sie bei den Archivisten abgeholt hatte?
Zunächst entschlüpfen mir die Erinnerungen wie silbrige Fische im Fluss, doch dann gelingt es mir, sie festzuhalten.
Ich habe die Gedichte im See versteckt.
Obwohl man uns gewarnt hatte, der See sei tot, wagte ich mich hinein, weil ich Zeichen von Leben erkannte. Das Ufer sah genauso aus wie das der klaren, reinen Flüsse in den Canyons und nicht wie der, an dem Vick getötet worden war. An einer Stelle, an der eine warme Quelle sprudelte, sah ich Seegras, und in der Tiefe schwammen träge einige Fische, die den Winter dort unten verbrachten.
Ich kroch aus dem Gebüsch heraus, das bis ans Wasser wuchs, und vergrub die Kiste im Grund unter dem mittleren Steg, zwischen den Steinen im Flachwasser, wo der See ans Ufer grenzt.
Dann kehrt eine Erinnerung zurück, die nicht so weit zurückliegt.
Der See! Dort wollte Ky sich mit mir treffen!
Als ich den See erreiche, schalte ich die Taschenlampe ein, die ich im Gebüsch am Stadtrand versteckt habe, wo die Straßen enden und der Sumpf beginnt.
Ich glaube nicht, dass er schon da ist.
Immer, wenn ich an den See zurückkehre, erfasst mich die Angst – angenommen, die Gedichte sind nicht mehr da? Doch dann atme ich tief durch, fasse mit beiden Händen ins Wasser, räume die Steine weg und hebe eine tropfende Kiste voller Poesie heraus.
Wenn ich Gedichte eintausche, dann meist als Gebühr für Nachrichten zwischen Ky und mir.
Da wir nicht wissen, durch wie viele Hände unsere Briefe wandern, verschlüsseln wir sie. Ich habe damit angefangen, indem ich meine erste Nachricht in einem selbst erfundenen Code verschickte, den ich mir in den langen Stunden vor dem Bildschirm ausgedacht hatte, wenn die Arbeit nicht meine volle Aufmerksamkeit erforderte. Ky entschlüsselt den Code und verändert ihn leicht, wenn er mir antwortet. Mit jedem Mal entwickeln wir unser System weiter, so dass unsere Nachrichten immer schwieriger zu entziffern sind. Unser System ist zwar nicht perfekt – der Code kann mit geringer Mühe dechiffriert werden –, aber immerhin eine kleine Absicherung.
Je näher ich ans Wasser gelange, desto mehr fällt mir auf, dass irgendetwas nicht stimmt.
Ein dichter Schwarm von schwarzen Vögeln hat sich am Rande des ersten Stegs versammelt, und weiter am Ufer entlang hockt ein zweiter. Sie kreischen, rufen sich etwas zu und picken an irgendetwas, das auf dem Boden liegt. Ich leuchte sie mit meiner Taschenlampe an.
Die Vögel flattern auf und beschimpfen mich lauthals. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Tote Fische schwappen ans Ufer und hängen im Schilf, Bauch nach oben, glasige Augen. Ich muss daran denken, was Ky mir über Vick und dessen Tod erzählt hat, an den dunklen, verseuchten Strom draußen in den Äußeren Provinzen und an die anderen Flüsse in Richtung
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