Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Der Flur liegt verlassen da. Die Türen sind solide, so dass kein Licht hindurchschimmert, doch als ich meine Wohnung betrete, erwartet mich in der Diele wie immer das Terminal.
Unwillkürlich schlage ich die Hand vor den Mund, um einen Schrei des Entsetzens zu ersticken.
Trotz meiner Erlebnisse in den Canyons erschüttert mich der Anblick bis ins Mark.
Über den Bildschirm flimmern Bilder von Leichen, grauenvoller als die verbrannten, zerstreuten, blau geäderten Toten auf dem Berggipfel, schlimmer als die Reihen der Gräber in der Siedlung, neben denen Hunter seine Tochter liebevoll zur Ruhe bettete. Allein die Anzahl ist furchtbar, unfassbar. Die Kamera fährt die Reihen hinauf und hinunter, so dass wir genau sehen können, wie viele Tote es sind. Auf und ab, auf und ab.
Warum starren wir alle hin wie gebannt?
Weil sie die Gesichter zeigen. Die Kamera hält bei jeder Person lange genug inne, um schmerzliches Erkennen oder Erleichterung in uns zu wecken. Dann fährt sie weiter und schürt unsere Angst.
Eine neue Erinnerung steigt in mir auf: an die Gewebeproben in der Höhle, die uns Hunter gezeigt hat.
Ist das die Erklärung? Hat man eine neue Methode gefunden, uns zu lagern?
Plötzlich erkenne ich, dass die Menschen auf dem Bildschirm gar nicht tot sind, sondern nur unnatürlich still und reglos daliegen. Ihre Augen sind geöffnet und blicken ins Leere, doch ihr Brustkorb hebt und senkt sich. Ihre Haut wirkt merkwürdig fahl und bläulich.
Sie sind nicht tot, aber ihr Zustand erscheint mir fast genauso schlimm. Sie sind wach und doch nicht wach. Unter uns und doch weit weg. Anwesend, aber unerreichbar.
Jede Person ist über einen durchsichtigen Schlauch im Arm mit einem Plastikbeutel verbunden. Führt der Schlauch durch ihr gesamtes Gefäßsystem? Sind sie statt von Adern von Plastik durchzogen? Ist das ein neuer Plan der Gesellschaft? Erst nehmen sie uns unsere Erinnerungen, dann saugen sie unser Blut aus, bis wir nur noch aus dünner Haut und leeren Augen bestehen, eine Hülle dessen, was wir einst gewesen sind?
Ich denke an Indies leeres Wespennest, das sie in den Canyons gefunden und die ganze Zeit mitgeschleppt hat, die runden, papierartigen Kammern, die einst summende, stechende Tiere und ihr geschäftiges, kurzes Leben beherbergten.
Unwillkürlich hefte ich den Blick auf die starren, leblosen Augen in den Gesichtern der Patienten. Die Kranken scheinen keine Schmerzen zu haben, scheinen überhaupt nichts zu spüren.
Jetzt ändert sich die Perspektive, es scheint, als würden wir durch die Terminals an den Wänden des Gebäudes hinunterschauen, in dem diese Menschen untergebracht sind. Trotz des veränderten Blickwinkels können wir alle Kranken erkennen.
Mann, Frau, Kind, Kind, Frau, Mann, Mann, Kind.
In endloser Folge.
Wie lange zeigen die Terminals bereits diese Bilder? Die ganze Nacht? Seit wann genau?
Plötzlich entdecke ich das Gesicht eines Mannes mit braunen Haaren.
Den kenne ich doch! , denke ich schockiert. Ich habe mit ihm zusammengearbeitet, hier in Central! Befinden sich diese Leute in Central?
Gnadenlos laufen die Bilder weiter, Bilder von Menschen, die ihre Augen nicht schließen können. Im Gegensatz zu mir. Und das tue ich. Ich kann es nicht mehr mit ansehen. Ich möchte weglaufen und drehe mich zur Tür.
In dem Moment ertönt eine Männerstimme, voll, melodisch und deutlich.
»Die Gesellschaft ist krank«, sagt er, »und wir haben das Heilmittel.«
Langsam drehe ich mich wieder um. Doch man sieht kein Gesicht, sondern hört nur die Stimme. Das Terminal zeigt weiterhin nur die reglosen Kranken.
»Die Erhebung ist gekommen«, verkündet er, »und ich bin der Steuermann.«
In meiner winzigen Diele hallen die Worte von den Wänden wider, ihr Echo kommt von allen Seiten, von jeder Oberfläche im Raum.
Steuermann.
Steuermann.
Steuermann.
Monatelang habe ich mich gefragt, wie es sein würde, die Stimme des Steuermannes zu hören.
Ich dachte, ich würde Angst, Überraschung, Glück, Aufregung, Besorgnis empfinden.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so wie jetzt sein würde.
Ich bin enttäuscht.
So tief, dass mir fast das Herz bricht. Mit dem Handrücken wische ich mir die Tränen aus den Augen.
Bis zu diesem Moment wusste ich nicht, dass ich erwartet hatte, die Stimme des Steuermannes wiederzuerkennen. Habe ich gedacht, er würde wie Großvater klingen? Habe ich geglaubt, der Steuermann wäre ein bisschen wie er?
»Wir nennen diese Krankheit die Seuche«, fährt der
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