Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
so wie Ky und Indie. Doch man sagte mir, ich sei nicht zum Fliegen geeignet, sondern nur zum Sortieren.
Aber das macht mir nichts aus. Ich bin mit der Erhebung verbunden, aber nicht durch sie definiert. Ich besitze meine Gedichte und verstehe es, mit ihnen zu handeln. Vielleicht ist es an der Zeit, sie dazu zu verwenden, mir einen Weg fort von hier zu erkaufen. Ich habe lange genug gewartet.
Ich blicke hinunter auf die kleinen, gegeneinanderschwappenden Fischleichen. Ihre glänzenden, toten Augen, ihre schleimigen Schuppen und der Gestank jagen mir einen Schauder über den Rücken. Ich werde sie berühren, wenn ich ins Wasser greife, um die Kiste herauszuholen. Ihr Geruch ist so stark, dass ich ihr verrottendes Fleisch beinahe schmecken kann und bestimmt hinterher selbst danach stinken werde.
Schau nicht hin! Bring es hinter dich!
Ich klemme die Taschenlampe unter dem Steg fest, schäle die Seiten mit den Gedichten von meinen Armen und lege sie auf den Boden. Ich ziehe die Ärmel über meine Hände, um sie ein wenig vor dem Wasser zu schützen. Dann wate ich hinaus und versuche, die toten Fische an meinen Beinen nicht zu spüren, dieses stetige Schwappen kleiner Leichen in einem See, der bis vor kurzem noch ein sicherer Ort war. Ich hoffe, dass mich meine Kleider vor dem schützen, was auch immer in diesem Wasser lauern mag.
Der Gestank ist penetrant. Ich muss den Atem anhalten, als ich meine Hände ins Wasser tauche, und mir wird übel bei den Berührungen mit Schuppen, Flossen, Augen und Schwänzen.
Die Kiste ist noch da, und ich ziehe sie so schnell ich kann tropfend aus dem Wasser. Fische schlagen gegen meine Hände und werden beim Waten gegen meine Schienbeine gedrückt. Die kleinen Leichen weichen auseinander und schließen sich hinter mir wieder zusammen.
Ich trage die Kiste über die Wiese, weg vom See, und hocke mich für einen Moment in den Schutz des dichten Gebüschs. Vorsichtig, um nicht die Seiten zu betropfen, die ich vorhin hier abgelegt habe, wische ich mir die Hände an einem trockenen Hemdzipfel ab.
Würde ich den Wert dieser zarten Seiten zu schätzen wissen, wenn ich nicht den Ort gesehen hätte, an denen sie verborgen waren? Wenn ich nicht Hunter vor Augen hätte, der nach einem Vers für den Grabstein seiner Tochter sucht? Vielleicht trage ich die Gedichte deshalb auf der Haut. Nicht nur, um sie zu verstecken, sondern auch, um sie zu spüren, um mich an das zu erinnern, was ich bei mir trage.
Ich stelle mir vor, mir ein Gewand aus Wörtern zu machen, in überlappenden Schichten wie Fischschuppen. Jede Seite würde mich schützen, jeder Absatz, jeder Satz meinen Bewegungen folgen.
Doch ihre Schuppen konnten die Fische letztendlich nicht schützen, und als ich den Deckel öffne, entdecke ich, was ich eigentlich längst hätte bemerken müssen, als ich die Kiste hochhob, wenn mich die vielen kleinen Leichen nicht zu sehr abgelenkt hätten.
Die Kiste ist leer.
Jemand hat meine Gedichte gestohlen.
Jemand hat meine Gedichte gestohlen, Ky ist nicht gekommen, und es ist kalt.
Ich weiß, es ist zu spät, aber ich wünschte, ich wäre heute Abend nicht hierhergekommen. Dann wüsste ich, was ich alles verloren habe.
Als ich mich der Stadt nähere und zu den Wohnhäusern aufblicke, stelle ich fest, dass nicht nur mit dem See etwas nicht stimmt.
Obwohl schon tiefe Nacht herrscht, schläft die Stadt nicht.
Die Lichter haben eine seltsame Farbe – eher Blau als Golden –, und es dauert einen Moment, bis ich den Grund dafür erkenne. In allen Wohnungen sind die Terminals eingeschaltet. Ich habe schon öfter erlebt, dass Sendungen gesellschaftsweit ausgestrahlt wurden, an Winterabenden, wenn die Sonne früh untergeht und wir auch nach Einbruch der Dunkelheit noch eine Weile wach sind.
Doch noch nie haben die Terminals so spät gesendet.
Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern.
Was kann so wichtig sein, dass die Gesellschaft alle weckt?
Ich durchquere die Grünflächen, die jetzt in kaltem Blau und Grau daliegen, gelange zu meinem Apartmentkomplex, gebe meinen Nummerncode ein und schlüpfe durch die schwere Metalltür. Die Gesellschaft wird meine späte Ankunft registrieren, und man wird mich zur Rede stellen. Gelegentlich für eine Stunde spurlos zu verschwinden ist schon eine ernste Sache, die halbe Nacht aber eine schwerwiegende Übertretung. Man könnte alles Mögliche angestellt haben.
Geräuschlos wie ein Airtrain gleitet der Aufzug hinauf in mein Stockwerk, das siebzehnte.
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