Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
beides behalten.«
Unehrliche Händler gibt es überall, sogar eine ganze Menge. Aber normalerweise wagen sie es nicht, mit den Archivisten zusammenzuarbeiten.
»Sie haben doch keinen Schaden erlitten«, erwidert Samara der Archivistin. »Sie haben Ihre Bezahlung erhalten.« Ihr Versuch, sich zu wehren, erfüllt mich mit aufrichtigem Mitleid. Warum hat sie das getan? Sie hätte doch wissen müssen, dass sie nicht ungestraft davonkommen würde. »Nur die Person, die ich bestohlen habe, hat das Recht, mich zu bestrafen.«
»Im Gegenteil«, sagt die Archivistin und tritt einen Schritt nach vorn. »Mit deinem Diebstahl schädigst du unseren Ruf!«
Drei Archivisten lassen ihre Taschenlampen fallen und gehen auf die Frau zu.
Mein Herz klopft, und ich ziehe mich etwas weiter ins Dunkel zurück. Zwar komme ich oft hier hinunter, aber ich bin keine Archivistin. Meine Privilegien – die die der meisten Händler übersteigen – können mir jederzeit entzogen werden.
Ich höre das Schnippen einer Schere, und die Archivistin tritt zurück, Samaras rotes Armband in der Hand, das sie als offizielle Händlerin gekennzeichnet hat. Samara ist kreidebleich, aber offenbar unverletzt. Im hellen Lichtschein, in dem sie noch immer steht, sehe ich ihren hochgeschobenen Ärmel und das nackte Handgelenk, um das eben noch das rote Armband gebunden war.
»Die Kunden müssen sicher sein können«, sagt die Archivistin, an das gesamte Publikum gewandt, »dass sie uns vertrauen können. Was geschehen ist, hat uns alle in Misskredit gebracht. Jetzt müssen wir den Preis für das Geschäft zahlen.« Die übrigen Archivisten haben jetzt die Taschenlampen gesenkt, und man hört nur noch die Stimme der Chefin. Ihr Gesicht liegt im Dunkeln. »Und für andere bezahlen zu müssen, mögen wir gar nicht.« In verändertem Tonfall, als sei die Sache damit erledigt, wendet sie sich an uns alle: »Sie können jetzt wieder an die Arbeit gehen.«
Reglos bleibe ich stehen. Wer sagt, dass ich nicht wie Samara handeln würde, wenn mir etwas in die Hände fiele, das ein anderer dringend braucht? Ich glaube nämlich, dass das dahintersteckt. Vermutlich hätte Samara nicht aus Eigennutz so viel aufs Spiel gesetzt.
Ich spüre eine Hand am Ellbogen und drehe mich um.
Es ist die Chefarchivistin persönlich. »Kommen Sie mit«, sagt sie. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«
Die Chefarchivistin führt mich durch Reihen von Regalen und einen langen dunklen Flur entlang. Mit festem Griff hält sie mich am Arm. Wir befinden uns jetzt in einem weiteren, weitläufigen Raum, der mit Metallregalen bestückt ist, aber diese sind alle gefüllt. Sie enthalten alles, was man sich nur wünschen könnte, jedes verlorene Stück der Vergangenheit, jedes Fragment einer möglichen Zukunft.
Einige Archivisten wandern durch die Regalreihen, andere stehen Wache. Dieser Raum ist anders beleuchtet als die übrigen, von diversen schwach glühenden Deckenlampen. Ich erhasche einen Blick auf Kisten, Schachteln und – teils unförmige – Behälter. Man bräuchte einen Lageplan, um sich hier zurechtzufinden!
Schon bevor sie es mir verrät, weiß ich, wo wir uns befinden, obwohl ich noch nie hier gewesen bin: in den Archiven. Es ist in etwa so, als würde man dem Steuermann zum ersten Mal begegnen: Ich wusste schon immer von der Existenz dieses Ortes, aber ihn mit eigenen Augen zu sehen, löst widersprüchliche Reaktionen in mir aus. Ich könnte singen, weinen, weglaufen, ich weiß nicht, was.
»Die Archive sind mit Schätzen gefüllt«, sagt die Archivistin, »und ich kenne jeden einzelnen von ihnen.«
Ihr Haar leuchtet golden im Lichtschein, als sei sie selbst einer jener Schätze, die sie bewacht. Dann dreht sie sich zu mir um und sieht mich an.
»Nicht viele sind bisher hier gewesen.«
Warum ich? , wundere ich mich.
»Viele Geschichten sind durch meine Hände gewandert«, fährt die Archivistin fort. »Eine meiner liebsten handelt von einem Mädchen, das Stroh zu Gold spinnen soll. Ein unmöglicher Auftrag, aber sie hat ihn mehrmals erfüllt. Dem gleicht auch meine Aufgabe.«
Die Archivistin biegt in einen Gang ein und nimmt eine Schachtel aus dem Regal. Sie öffnet sie, und ich sehe, dass sie mit Reihen von in Papier eingewickelten Tafeln gefüllt ist. Eine davon nimmt sie heraus, hält sie hoch und sagt: »Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Tag hier verbringen. Hier habe ich damals angefangen. Ich habe die Artefakte sortiert und katalogisiert.« Sie schließt die
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