Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
Augen, atmet tief ein, und ich folge ihrem Beispiel.
Der Duft, der aus dem Karton aufsteigt, ist vertraut, eine ferne Erinnerung, die ich zunächst nicht einordnen kann. Mein Herz schlägt ein wenig schneller, und ich merke, wie ein altes Gefühl von Groll in mir aufsteigt, unerwartet und fehl am Platze. Dann fällt es mir wieder ein.
»Das ist Schokolade!«
»Richtig«, sagt die Archivistin. »Wann haben Sie zum letzten Mal welche gegessen?«
»Auf meinem Paarungsbankett«, antworte ich.
»Natürlich«, sagt sie, schließt den Karton, greift nach dem nächsten und öffnet ihn. Ich sehe Silber blinken und glaube im ersten Moment, es seien Silberetuis von Paarungsbällen, doch stattdessen erkenne ich Gabeln, Messer und Löffel. In einem anderen Karton wird Porzellangeschirr aufbewahrt, schneeweiß und zerbrechlich wie Eis. Dann biegen wir in einen anderen Gang ein, und die Archivistin zeigt mir Ringe mit roten, grünen, blauen und weißen Steinen. In einer anderen Reihe nimmt sie Bücher aus den Regalen, die so reich und schön bebildert sind, dass ich die Hände verschränken muss, um sie nicht schnell zu berühren.
Hier verbirgt sich ein so großer Reichtum! Obwohl ich meinen Besitz nicht gegen Silberbesteck oder Schokolade eintauschen würde, kann ich doch verstehen, warum andere es tun.
»Vor der Entstehung der Gesellschaft«, beginnt die Chefarchivistin, »benutzten die Menschen Geld. Es gab Münzen – manche davon aus Gold – und Scheine aus festem Papier. Im Tausch gegen dieses Geld konnte man andere Dinge bekommen.«
»Wie denn?«, frage ich.
»Angenommen, ich hätte Hunger«, sagt die Chefarchivistin. »Dann könnte ich für, sagen wir, fünf solcher Scheine von einem anderen etwas zu essen bekommen.«
»Und was würde derjenige mit den Scheinen anfangen?«
»Sie benutzen, um wieder etwas anderes dafür zu bekommen«, erklärt sie.
»Stand etwas auf ihnen geschrieben?«
»Nein«, erwidert sie. »Jedenfalls nichts, was mit Ihren Gedichten vergleichbar wäre.«
Ich schüttele den Kopf. »Und was sollte das?« Die Art, wie die Archivisten Geschäfte abwickeln, erscheint mir wesentlich plausibler.
»Sie haben einander vertraut«, sagt die Archivistin. »Bis sie es eines Tages nicht mehr taten und das System zusammenbrach.«
Sie hält inne. Ich weiß nicht, welche Reaktion sie von mir erwartet.
»Was ich Ihnen zeigen will«, fährt die Chefarchivistin fort, »sind die Dinge, denen die meisten Menschen einen Wert beimessen. Gewöhnliche Dinge. Wir haben aber auch Kisten und Kästen voller ganz besonderer Gegenstände für exzentrischere Geschmäcker. Wir führen dieses Archiv schon seit langer Zeit.« Sie geleitet mich den Weg zurück, den wir gekommen sind, bis zu dem Regal mit dem Schmuck. Dort bleibt sie kurz stehen, zieht eine Schachtel heraus und nimmt sie ungeöffnet mit. »Jeder misst etwas anderem besondere Bedeutung bei und ist bereit, dafür etwas herzugeben – etwas, das wiederum für einen anderen besondere Bedeutung hat«, sagt sie. »Mit am interessantesten ist, Wissen zu haben und es handeln zu wollen. Wenn die Leute also etwas in Erfahrung bringen, aber nicht besitzen wollen. Natürlich sind auch die Wissbegierden der Menschen höchst unterschiedlich und interessant.« Sie bleibt am Ende eines der Regale stehen. »Was möchten Sie gerne wissen, Cassia Reyes?«
Ich möchte wissen, ob es meiner Familie, Ky und Xander gutgeht. Oder was Großvater mit dem Tag im roten Garten gemeint hat. Welche Erinnerungen ich verloren habe .
Das alles kann sie mir nicht sagen.
Stille tritt ein in dieser gut sortierten Schatzkammer.
Das Licht ihrer Taschenlampe wird von den Regalen zurückgeworfen, und es funkelt und glitzert mal hier, mal da. Wenn ich zwischendurch einen Blick auf das Gesicht der Archivistin erhasche, wirkt sie nachdenklich. »Wissen Sie, was augenblicklich sehr wertvoll ist?«, fragt sie mich. »Diese Röhrchen der Gesellschaft, die geheimen. Haben Sie von ihnen gehört? Die mit den Gewebeproben, die vor dem Letzten Bankett entnommen wurden?«
»Ja, ich habe von ihnen gehört«, bestätige ich. Und nicht nur das: Ich habe sie sogar gesehen. Reihenweise gelagert in einer Höhle mitten in den Canyons. Hunter hat eines zerbrochen. Eli und ich haben einige davon gestohlen.
»Da sind Sie nicht die Einzige«, fährt die Chefarchivistin fort. »Manche würden alles dafür tun, einer solchen Gewebeprobe habhaft zu werden!«
»Die Röhrchen sind völlig wertlos«, entgegne ich.
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