Cassia & Ky – Die Ankunft: Band 3 (German Edition)
»Sie ersetzen keine echten Menschen.« Ich zitiere Ky und hoffe, die Archivistin hört meiner Stimme nicht an, dass ich lüge. Denn ich habe Großvaters Röhrchen aus der Höhle gestohlen und Ky gebeten, es zu verstecken, weil ich mich nicht von der Idee verabschieden konnte, dass die Proben doch einmal wichtig werden könnten.
»Möglich«, sagt die Archivistin. »Aber nicht alle sind Ihrer Meinung. Sie wollen ihre eigenen Gewebeproben und die ihrer Verwandten und Freunde haben. Besonders, wenn sie einen Angehörigen durch die Seuche verloren haben.«
Wenn sie einen Angehörigen durch die Seuche verloren haben. »Sind wirklich Menschen daran gestorben?«, frage ich, doch im selben Moment weiß ich, dass es durchaus sein kann. Ich habe in den Canyons gelernt, wie vergänglich der Mensch ist.
Als könne sie meine Gedanken lesen, fragt die Archivistin: »Sie haben die Röhrchen gesehen, oder? Als Sie auf der Flucht vor der Gesellschaft waren?«
Beinahe hätte ich gelacht, ohne eigentlich zu wissen, warum. Ja, ich habe die Höhle gesehen, nach der Sie mich fragen, das Lager mit den endlosen Reihen der Reagenzgläser tief unter der Erde. Ich habe auch eine Höhle voller Bücher und Dokumente gesehen und goldene Äpfel an dunklen Bäumen, die an einem Ort mit viel Wind und wenig Regen wuchsen. Ich habe meinen in einen Baum geritzten Namen und auf Felswände gemalte Bilder gesehen.
In den Canyons habe ich auch Leichen unter freiem Himmel gesehen und einen Mann, der seine Tochter mit Totengesang bestattet hat, nachdem er ihre und seine Arme mit blauen Linien bedeckte. Ich habe Leben an diesem Ort gespürt und den Tod gesehen.
Die Archivistin fragt: »Sie haben nicht zufällig eines dieser Röhrchen als Tauschobjekt mitgebracht?«
Wie viel weiß sie? »Nein«, behaupte ich.
»Zu schade«, sagt sie.
»Was würde ich dafür bekommen?«
»Unterschiedlich«, antwortet die Archivistin. »Wir können natürlich nichts garantieren. Dass Tote wieder zum Leben erweckt werden können, versprechen wir nicht.«
»Die Leute gehen aber davon aus«, erwidere ich.
»Sie bräuchten nur einige wenige Röhrchen, um reisen zu können, wohin Sie wollten«, sagt die Archivistin. »Nach Keya zum Beispiel.« Sie wartet ab, ob ich anbeiße. Sie weiß, wo meine Familie ist. »Oder nach Hause, nach Oria.«
»Oder«, erwidere ich mit den Gedanken an Camas, »an einen ganz anderen Ort?«
Wir sehen uns abwartend an.
Zu meiner Überraschung ergreift sie als Erste das Wort, und dadurch erkenne ich, wie wichtig diese Proben für sie sind.
»Wenn Sie an eine Reise nach Anderland denken«, sagt sie ganz leise, »so ist das inzwischen unmöglich.«
Anderland? Davon habe ich noch nie gehört, nur von Ländern, die auf einer Karte damals in Oria als das Gebiet des Feindes bezeichnet wurden. So, wie die Archivistin von »Anderland« gesprochen hat, muss sie jedoch einen ganz eigenen, fernen Ort meinen. Wo liegt er? Sogar Ky, der in den Äußeren Provinzen groß geworden ist, hat nie einen Ort namens »Anderland« erwähnt. Ich gerate schon in die Versuchung, ja zu sagen, um mehr über dieses Land zu erfahren, das so weit weg liegt, dass es auf keiner Landkarte erscheint, die ich je gesehen habe, einschließlich der der Dorfbewohner aus den Canyons.
»Nein«, sage ich. »Ich habe keine Röhrchen.«
Einen Moment lang schweigen wir beide. Dann ergreift die Archivistin wieder das Wort. »Mir ist aufgefallen, dass Sie sich in letzter Zeit auf etwas anderes konzentrieren als auf den Handel«, bemerkt sie. »Ich habe mir die Galerie angesehen. Eine großartige Sache.«
»Danke«, sage ich. »Jeder hat irgendetwas, das sich mit anderen zu teilen lohnt.«
Die Archivistin sieht mich mitleidig, aber auch erstaunt an. Sie erwidert: »O nein. Alles in der Galerie hat es so oder besser schon einmal gegeben. Trotzdem ist sie auf ihre Weise ein bemerkenswertes Phänomen.«
Sie ist nicht wie der Steuermann, das habe ich jetzt erkannt. Sie erinnert mich eher an meine Funktionärin früher in Oria. Beiden ist die Überzeugung gemeinsam, dass sie stets dazulernen und sich weiterentwickeln, obwohl sie diese Fähigkeit schon vor langer Zeit verloren haben.
Ich bin erleichtert, als ich die Archive verlassen und zur Galerie gehen kann, die lebendig und oberirdisch ist. Als ich mich nähere, horche ich auf.
Da singt doch jemand!
Ich kenne das Lied nicht, es gehört nicht zu den Hundert Liedern. Den Text kann ich nicht verstehen, weil ich noch zu weit entfernt
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