Cassia & Ky – Die Flucht
Wurzeln reißen Steine und Erde mit sich. Für einen Moment erkenne ich jede einzelne Lebensfaser, und dann wird mir klar, dass die ganze Felswand unter ihnen mit abrutscht. Der Weg zerbricht in Stücke und wird unter Wasser, Schlamm und Felsbrocken begraben.
Und die Wand rutscht immer weiter ab.
Zu weit
, erkenne ich,
sie rutscht zu weit runter! Sie wird die Niederlassung verschütten
.
Eines der Häuser ächzt, bricht in sich zusammen und weicht dem Schlamm.
Dann noch eines.
Die Erde schiebt sich quer durch die Niederlassung, zersplittert Holz, zerbricht Glas und knickt Bäume um.
Dann erreicht sie den Fluss und kommt zum Stillstand.
Der Erdrutsch hat einen sauberen, glatten Schnitt aus rotem Schlamm und Felsen mitten durch die Häuser gezogen und sich in den Fluss ergossen. Das Wasser wird steigen und womöglich die ganze Schlucht überfluten. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, kommen die anderen aus dem Haus gestürzt und eilen zum Weg.
Ich laufe los, um Hunter mit dem Boot zu helfen. Wenn sie zur Erhebung will, werde ich ihr helfen, sie zu erreichen.
Kapitel 42 CASSIA
Der Marsch hinaus aus der Schlucht verläuft langsam und beschwerlich. Ständig rutschen wir aus, fallen und rappeln uns wieder auf, wieder und immer wieder. Wir sind alle von Kopf bis Fuß mit Schlamm bedeckt, bis wir eine Höhle finden, in die wir uns hineinzwängen können. Das Boot passt nicht mit hinein; wir müssen es draußen auf dem Weg zurücklassen. Ich höre den Regen auf die Plastikhülle trommeln. Wir haben es nicht bis zur Höhle mit den tanzenden Mädchen geschafft. Diese Höhle ist winzig und mit Steinen und Abfall vermüllt.
In den ersten Momenten kann sich vor Erschöpfung keiner aufraffen, auch nur ein Wort zu sagen. Die Rucksäcke liegen neben uns. Als sie mit jedem Schritt durch den Matsch immer schwerer und schwerer wurden, stellte ich mir vor, wie ich Essen, Wasser, ja, sogar Dokumente auspacken und wegwerfen würde. Ich blickte zu Indie hinüber. Als wir zum ersten Mal aus der Schlucht hinausgeklettert sind, war ich krank. Den größten Teil der Strecke hat sie meinen Rucksack getragen.
»Danke«, sage ich zu ihr.
»Wofür?«, fragt sie überrascht und misstrauisch.
»Dass du auf unserem Weg hierher meine Sachen getragen hast«, antworte ich.
Ky hebt den Kopf und sieht mich an, zum ersten Mal seit der Konfrontation in der Niederlassung. Es tut gut, seine Augen wiederzusehen. Im Halbdunkel der Höhle wirken sie schwarz.
»Wir müssen besprechen, wie es weitergeht«, sagt Hunter. Er hat recht. Was wir alle wissen, aber noch keiner ausgesprochen hat, ist, dass wir nicht alle in das Boot passen. »Was habt ihr vor?«
»Ich will versuchen, die Erhebung zu erreichen«, sagt Indie sofort.
Eli schüttelt den Kopf. Er kann sich noch nicht entscheiden, und ich weiß genau, wie er sich fühlt. Wir würden uns beide am liebsten der Erhebung anschließen, aber Ky traut den Rebellen nicht. Dagegen vertrauen wir beide Ky, obwohl er die Karte angezündet hat.
»Ich habe immer noch vor, mich wieder meinen Leuten anzuschließen«, erklärt Hunter.
»Du könntest ohne uns weiterziehen«, sagt Indie zu Hunter. »Stattdessen hilfst du uns. Warum tust du das?«
»Weil ich die Röhrchen zerbrochen habe«, antwortet Hunter. »Die Gesellschaft wäre euch wahrscheinlich nicht so schnell auf die Spur gekommen, wenn ich das nicht getan hätte.« Obwohl er nur wenige Jahre älter ist als wir, wirkt er um vieles weiser. Vielleicht liegt es daran, dass er ein Kind gehabt hat oder an einem so unwirtlichen Ort lebt, aber vielleicht wäre er auch in der Gesellschaft so gewesen, auch wenn er dort ein wesentlich bequemeres Leben geführt hätte. »Außerdem«, fährt Hunter fort, »tragt ihr unsere Rucksäcke, während wir das Boot transportieren. Es ist in unser aller Interesse, uns gegenseitig aus den Canyons herauszuhelfen. Anschließend können wir getrennte Wege gehen.«
Ky sagt kein Wort.
Draußen prasselt der Regen auf den lehmigen Boden, und ich denke an den Teil seiner Lebensgeschichte, die er mir zu Hause in der Siedlung aufgezeichnet hat und in der es hieß:
Wenn es regnet, erinnere ich mich.
Damals habe ich geschworen, mich bei Regen ebenfalls zu erinnern. Und ich denke daran, wie Ky mir gesagt hat, ich solle die Gedichte eintauschen. Er beeinflusste mich nicht, indem er mir zuredete, das Tennyson-Gedicht loszuwerden, obwohl er wusste, dass es mich zur Erhebung führen konnte. Er ließ mir diese Wahl – was ich
Weitere Kostenlose Bücher