Cassia & Ky – Die Flucht
eintauschen und was ich mit meinen Entdeckungen anfangen wollte.
»Was stößt dich an der Erhebung so sehr ab, Ky?«, frage ich ihn leise. Ich will ihn nicht vor allen anderen zur Rede stellen, aber was bleibt mir anderes übrig? »Ich muss mich entscheiden, welchen Weg ich einschlagen will. Eli auch. Es würde uns helfen, wenn du uns erklären würdest, woher dein Hass auf die Erhebung stammt.«
Ky blickt hinunter auf seine Hände, und ich erinnere mich an das Bild, das er mir damals in der Gesellschaft geschenkt hat. Es zeigte ihn selbst, wie er die Wörter
Mutter
und
Vater
in den Händen hielt. Er sagt: »Sie haben uns nicht geholfen. Die Erhebung führt dich und alle, die dir etwas bedeuten, in den Tod. Wer überlebt, wird zurückgelassen und wird zu einem anderen Menschen.«
»Aber der Feind hat deine Familie getötet«, wendet Indie ein. »Nicht die Erhebung.«
»Ich traue den Rebellen nicht«, erwidert Ky. »Mein Vater hat ihnen vertraut. Ich mache nicht denselben Fehler.«
»Und du?«, fragt Indie, an Hunter gewandt.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortet Hunter. »Das letzte Mal, dass die Erhebung in die Canyons gekommen ist, ist Jahre her.« Wir alle, auch Ky, lehnen uns nach vorn und hören ihm aufmerksam zu. »Sie haben uns erzählt, dass sie es geschafft hätten, die Gesellschaft flächendeckend zu infiltrieren, bis hinein nach Central, und sie versuchten erneut, uns dazu zu bewegen, uns ihnen anzuschließen.« Hunter lächelt freudlos. »Aber Anna lehnte hartnäckig ab. Seit Generationen lebten wir unser eigenes Leben, und sie war der Meinung, so solle es bleiben.«
»Die Erhebung hat also die Propagandabroschüren geschickt«, stellt Ky fest.
Hunter nickt. »Und auch die Karte, die wir jetzt benutzen. Sie hofften, wir würden unsere Meinung ändern und zu ihnen kommen.«
»Wie konnten sie davon ausgehen, dass ihr die Geheimsprache auf der Karte entziffern würdet?«, fragt Indie.
»Weil es unsere eigene ist«, antwortet Hunter. »Wir haben sie manchmal in der Niederlassung benutzt, wenn wir nicht wollten, dass Außenstehende uns verstanden.«
Er greift in seinen Rucksack und holt eine der Stirnlampen heraus. Draußen vor der Höhle herrscht inzwischen dunkle Nacht.
»Sie haben sie von einem unserer Jugendlichen gelernt, der uns verlassen und sich ihnen angeschlossen hat«, erklärt Hunter, schaltet die Lampe ein und stellt sie auf den Boden, damit wir einander sehen können. »Die Farmer als Gruppe sind nie zu den Rebellen übergelaufen, aber hin und wieder sind einzelne junge Leute zu ihnen gegangen. Einmal habe ich mich sogar selbst auf die Suche nach der Erhebung gemacht.«
»Ach, wirklich?«, frage ich überrascht.
»Ich habe sie aber nie erreicht«, fährt Hunter fort. »Ich bin nicht weiter gekommen als bis zu dem Fluss in der Ebene. Dann bin ich wieder umgekehrt.«
»Warum?«, frage ich.
»Wegen Catherine.« Hunters Stimme klingt rau. »Sarahs Mutter. Damals war Sarah natürlich noch nicht auf der Welt. Catherine hätte die Niederlassung niemals verlassen können, und ich erkannte, dass ich Catherine nicht verlassen konnte.«
»Warum konnte sie nicht gehen?«
»Weil sie unsere nächste Anführerin geworden wäre«, sagt Hunter. »Sie war Annas Tochter und ihrer Mutter sehr ähnlich. Nach Annas Tod hätte es eine Abstimmung gegeben, ob ihr ältestes Kind ihre Nachfolgerin werden sollte oder nicht, und wir alle hätten uns für Catherine ausgesprochen. Jeder liebte sie. Aber sie ist bei Sarahs Geburt gestorben.«
Das Licht in der Höhle erhellt unsere schlammigen Stiefel, während unsere Gesichter im Dunkeln bleiben. Ich höre, wie Hunter etwas aus seinem Rucksack nimmt.
»Anna ist ohne dich fortgezogen«, flüstere ich erschüttert. »Sie hat dich und ihre Enkelin im Stich gelassen …«
»Sie musste es tun«, erwidert Hunter. »Sie hat noch andere Kinder und Enkel und ist für ein ganzes Dorf verantwortlich.« Er schweigt einen Moment. »Vielleicht wird dir jetzt klar, warum wir die Erhebung nicht grundsätzlich verurteilen. Genau wie wir hat sie das übergeordnete Wohl der ganzen Gruppe im Auge. Wir können ihnen das nicht zum Vorwurf machen.«
»Bei euch ist das etwas anderes«, wirft Ky ein. »Ihr existiert seit den Anfängen der Gesellschaft. Rebellionen kommen und gehen.«
»Wie seid ihr eigentlich damals geflüchtet?«, fragt Indie neugierig.
»Wir mussten nicht flüchten«, erklärt Hunter. »Man ließ uns ziehen.« Während er uns die ganze Geschichte erzählt,
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