Cassia & Ky – Die Flucht
Möglichkeit eingefallen, als die Wörter zu ertränken.
Es kostete mich lange, quälende Momente, das Papier in winzige Fetzen zu zerreißen. Zuerst habe ich es vor die Lippen gehalten und darauf geblasen, um das Reißgeräusch zu ersticken. Ich hoffe, die Schnipsel sind klein genug, um nicht den Abfluss zu verstopfen, so dass das Waschbecken überläuft.
Indie greift an mir vorbei und dreht den Wasserhahn zu. Für einen Augenblick befürchte ich, dass sie etwas weiß. Wahrscheinlich hat sie keine Ahnung von der Erhebung, der Rebellion, aber irgendwie habe ich das seltsame Gefühl, dass sie mehr über mich in Erfahrung gebracht hat, als mir lieb ist.
Klack. Klack.
Die Stiefelabsätze der Wächterin auf dem Beton. Indie und ich huschen zu unseren Betten. In Windeseile kletterte ich die Leitersprossen hinauf und schaue aus dem Fenster.
Die Wächterin bleibt einen Augenblick lauschend vor der Tür unserer Unterkunft stehen und setzt dann ihren Weg fort.
Ich bleibe noch einen Moment aufrecht sitzen und sehe ihr nach, wie sie den Weg entlanggeht. Vor der Tür einer anderen Unterkunft bleibt sie nochmals stehen.
Eine Rebellion. Ein Steuermann.
Wer könnte das sein?
Weiß Ky davon?
Möglicherweise. Der Mann in der Geschichte, der den Stein rollt, gleicht Sisyphus, von dem Ky mir damals erzählt hat. Ich muss daran denken, wie er mir Stück für Stück Teile seiner Geschichte gegeben hat. Mir kam es immer so vor, als hätte noch irgendetwas gefehlt.
Schon seit langer Zeit drängt meine Suche nach ihm alles andere in den Hintergrund. Dabei bin ich mir sicher, dass ich ihn finden werde, sogar ohne eine Landkarte und ohne den Kompass. Immer und immer wieder habe ich mir den Moment unseres Wiedersehens vorgestellt: wie er mich an sich ziehen wird, wie ich ihm ein Gedicht ins Ohr flüstere. Der einzige Makel an meinem Traum besteht darin, dass es mir bisher nicht gelungen ist, etwas für ihn zu schreiben; nie komme ich über die ersten Verse hinaus. In den Monaten hier draußen habe ich so oft neu angefangen, doch wie es mit der Liebe weitergehen soll, die uns verbindet, ist mir bislang noch ein Rätsel.
Ich ziehe meinen Beutel eng an mich und lege mich so leise wie möglich hin, Zelle für Zelle, so fühlt es sich an, bis mein Gewicht über die Matratze verteilt ist und sie mich ganz trägt, von den federleichten Haarspitzen bis zu den schweren Beinen und Füßen. Ich werde heute Nacht nicht schlafen.
Sie kommen im frühen Morgengrauen, genauso, wie sie Ky abgeholt haben.
Ich höre keine Schreie, doch etwas anderes schreckt mich auf. Eine Schwere in der Luft, eine andere Tonart im Zwitschern der Vögel, die singend den Morgen begrüßen, während sie auf ihrem Weg gen Süden in den Bäumen Rast machen.
Ich setze mich auf und blicke zum Fenster hinaus. Wachleute führen Mädchen aus anderen Unterkünften hinaus. Einige von ihnen weinen und versuchen, sich loszureißen. Ich presse mich dichter an die Scheibe, um besser sehen zu können, mit klopfendem Herzen, weil ich sicher bin, zu wissen, wohin sie die Mädchen bringen.
Wie kann ich es anstellen, auch mitgenommen zu werden?
Automatisch sortiere ich die Zahlenwerte. Wie viele Kilometer, wie viele Variablen dagegensprechen, dass eine solche Chance jemals wiederkehrt. Bisher hat es nicht so ausgesehen, als könne ich die Äußeren Provinzen aus eigener Kraft erreichen, aber vielleicht bringt mich die Gesellschaft dorthin.
Zwei Wächterinnen stoßen die Tür auf. »Wir brauchen zwei Mädchen aus dieser Unterkunft«, schnarrt eine von ihnen. »Koje acht und Koje drei.« Das Mädchen in Koje acht setzt sich schlaftrunken auf.
Koje drei, Indies Bett, ist leer.
Die Wächterinnen rufen und schauen aus dem Fenster. Eine einsame Gestalt hebt sich vor der Baumreihe in der Nähe des Weges ab. Indie. Sogar in der fahlen Morgendämmerung erkenne ich sie an ihrem hellen Haar und ihrer Haltung. Auch sie muss eine Vorahnung gehabt haben und irgendwie hinausgeschlüpft sein. Ich habe sie nicht gehen sehen.
Sie will flüchten.
Während die Wächterinnen vollauf damit beschäftigt sind, das Mädchen aus Koje acht herauszuzerren, und gleichzeitig wegen Indie in ihre Miniterminals schreien, handle ich schnell. Ich schüttle die drei Tabletten aus meiner Dose – grün, blau, rot – und verberge sie zwischen meinen Streifen mit blauen Tabletten. Dann verstecke ich die Tabletten unter den Nachrichten in meinem Beutel und hoffe inständig, dass niemand zu tief darin herumwühlt.
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