Cassia & Ky – Die Flucht
sammeln. Einige der Jungs summen und singen bei der Arbeit. Mir wird eiskalt, als ich die Melodie erkenne, obwohl ich nicht überrascht sein sollte. Es ist die Hymne der Gesellschaft. Die Gesellschaft hat uns die Musik genommen, indem sie die Hundert Lieder sorgfältig ausgewählt hat – komplizierte Stücke, die nur ihre künstlichen Stimmen leicht meistern –, und die Hymne ist die einzige Melodie, die die meisten Leute nachsingen können. Doch sogar sie hat eine ansteigende Sopran-Zeile, die kein Ungeübter singen kann. Die meisten Leute können nur die eintönige, rhythmische Basslinie oder die einfachen Melodien der Alt- und Tenorpartien treffen, und genau diese höre ich jetzt.
Einige Bewohner der Äußeren Provinzen hatten unsere alten Lieder bewahrt, und früher sangen wir zusammen, während wir auf dem Feld arbeiteten. Eine Frau hat mir einmal erzählt, es sei nicht so schwer, alte Melodien zu behalten, wo wir doch den Fluss, die Schluchten und die Canyons in der Nähe hätten.
Eigentlich wollte ich mich nur an das
wie
erinnern, doch dabei kommt mir unweigerlich das
wer
und
warum
in den Sinn.
Vick schüttelt den Kopf und erwidert: »Selbst wenn wir herausfinden, wie es funktioniert, setzen wir sie dem sicheren Tod aus.«
»Ich weiß«, sage ich. »Aber wenigstens können sie sich wehren.«
»Schon, aber nur einmal«, seufzt Vick. Seine Schultern sind gebeugt, und das habe ich noch nie an ihm beobachtet. Als habe er endlich erkannt, dass er ein Anführer ist, und trüge schwer an der Verantwortung.
»Es reicht nicht«, stelle ich fest und widme mich wieder meiner Arbeit.
»Nein«, stimmt Vick mir zu.
Ich habe versucht, die anderen Lockvögel gar nicht richtig wahrzunehmen, aber ich konnte nicht anders. Einer hat grüne und blaue Blutergüsse im Gesicht, ein anderer ähnelt mit seinen Sommersprossen dem Jungen, den ich im Fluss zurückgelassen habe. Er könnte sein Bruder sein, aber ich habe ihn nie gefragt und werde es auch nicht tun. Alle tragen schlechtsitzende Zivilkleidung und hochfunktionelle Mäntel, die sie warm halten, während sie auf den Tod warten.
»Wie heißt du eigentlich richtig?«, fragt Vick mich plötzlich.
»Ky ist mein richtiger Name«, antworte ich.
»Und mit Nachnamen?«
Ich halte einen Moment inne, denn zum ersten Mal seit Jahren fällt er mir ein.
Ky Finnow.
So hieß ich damals.
»Roberts«, sagt Vick ungeduldig, als er mein Zögern bemerkt. »So heiße ich mit Nachnamen. Vick Roberts.«
»Markham«, sage ich. »Ky Markham.« Denn unter diesem Namen kennt sie mich. Das ist jetzt mein richtiger Name.
Dennoch klang auch mein früherer Name wie mein richtiger, als ich ihn in Gedanken aussprach.
Finnow.
Das war auch der Name meiner Eltern.
Ich schaue zu den Lockvögeln hinüber, die Steine sammeln. Teilweise verleiht es mir ein gutes Gefühl, ihren Ehrgeiz zu sehen und zu wissen, dass ich ihnen dabei geholfen habe, sich für kurze Zeit etwas besser zu fühlen. Doch tief im Inneren weiß ich, dass es ist, als hätte ich Hungernden einen Brotkanten hingeworfen. Sie müssen dennoch sterben.
Kapitel 8 CASSIA
Als wir alle schaudernd in der kühlen Luft der Klimaanlage sitzen, werden uns als Erstes Mäntel versprochen. »Lange vor der Gesellschaft, als die Erwärmung ihren Lauf nahm, veränderte sich das Klima in den Äußeren Provinzen«, erzählt uns der Funktionär. »Es kann kalt werden, aber nicht mehr so wie früher. Manchmal gibt es Nachtfrost, aber wenn Sie die Mäntel tragen, sind Sie gut geschützt.«
Die Äußeren Provinzen also. Jetzt ist es sicher. Die anderen Mädchen, sogar Indie, blicken starr geradeaus, ohne eine Miene zu verziehen. Einige von ihnen zittern stärker als die anderen.
»Ihr Einsatz unterscheidet sich nicht von den Einsätzen in den anderen Arbeitslagern«, durchbricht der Funktionär die herrschende Stille. »Wir brauchen Sie, um die Felder zu bestellen. Um Baumwolle anzubauen, genauer gesagt. Wir wollen den Feind glauben machen, dass dieser Teil des Landes noch immer bewohnbar und besiedelt ist. Ein strategischer Schachzug der Gesellschaft.«
»Also stimmt es? Es gibt einen Krieg gegen den Feind?«, fragt eines der Mädchen.
Der Funktionär lacht. »Da passiert nicht mehr viel. Die Macht der Gesellschaft ist gefestigt. Aber der Feind ist unberechenbar. Er muss glauben, dass die Äußeren Provinzen noch immer blühende Siedlungsgebiete sind. Die Gesellschaft möchte aber keiner Bevölkerungsgruppe zumuten, dort zu lange zu bleiben. Daher
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