Cassia & Ky – Die Flucht
einzige Zeichen dafür, dass man sich möglicherweise Gedanken darüber macht, ob wir leben oder sterben. Mehr als alles andere, was man uns gegeben hat, verkörpern die Mäntel eine Investition. Einen gewissen Aufwand.
Ich blicke hinauf zum Funktionär. Er dreht sich um und öffnet erneut die Tür zum Cockpit. Er lässt sie einen Spalt offen, und ich sehe die Instrumente, die auf dem Armaturenbrett im Inneren leuchten und blinken. Mir erscheinen sie so zahlreich und rätselhaft wie die Sterne, doch der Pilot weiß sie zu deuten.
»Das Flugschiff rauscht wie ein Fluss«, meint Indie.
»Gibt es viele Flüsse, dort, wo du herkommst?«, frage ich.
Sie nickt.
»Der einzige Fluss in dieser Gegend, von dem ich gehört habe, ist der Sisyphus«, sage ich.
»Der Sisyphus?«, fragt Indie. Ich werfe einen Blick hinüber zu den Wächtern und dem Funktionär, um sicherzugehen, dass sie uns nicht belauschen. Sie sehen müde aus; die Wächterin schließt kurz die Augen.
»Die Gesellschaft hat ihn vergiftet«, erzähle ich Indie. »Nichts kann in seinem Wasser oder an seinen Ufern wachsen und gedeihen.«
Indie sieht mich an. »Man kann einen Fluss niemals ganz töten«, erwidert sie. »Man kann nichts töten, was sich ständig bewegt und verändert.«
Der Funktionär wandert durch das Schiff, redet mit dem Piloten, spricht mit den Wächtern und der Wächterin. Irgendetwas an der Art, wie er sich bewegt, erinnert mich an Ky und daran, wie er sich in einem fahrenden Airtrain ausbalancieren konnte, indem er kleine Richtungsänderungen vorausahnte.
Ky brauchte dafür keinen Kompass, und auch ich kann ohne den Kompass reisen.
Ich fliege hin zu Ky und fort von Xander, hinaus in das Äußere, das Andere.
»Wir landen gleich!«, ruft die braunhaarige Wächterin. Sie wirft uns einen Blick zu, und ich lese darin – Mitleid. Wir tun ihr leid, wir alle. Ich auch.
Sie sollte uns nicht bedauern. Das sollte niemand in diesem Flugschiff. Ich reise endlich in die Äußeren Provinzen.
Ich lasse meiner Phantasie freien Lauf und stelle mir vor, wie Ky mich erwartet, wenn wir landen. Dass es nur noch wenige Augenblicke dauert, bis wir uns wiedersehen. Vielleicht sogar, bis ich seine Hand berühre und später, in der Dunkelheit, seine Lippen.
»Du lächelst«, bemerkt Indie.
»Ich weiß«, sage ich.
Kapitel 9 KY
Die Nacht bricht schnell herein, während wir auf den Aufgang des Mondes warten. Der Himmel färbt sich blau, rosa und wieder blau. Ein dunkleres, tieferes Blau, fast ein Schwarz.
Ich habe Eli immer noch nichts von unseren Fluchtplänen erzählt.
Gerade eben hat Vick den anderen gezeigt, wie die Gewehre abgefeuert werden. Jetzt warten wir darauf, von ihnen wegzulaufen, hinein in den klaffenden, rissigen Schlund der Canyons.
Plötzlich erklingt das schrille Piepen einer eintreffenden Nachricht auf dem Miniterminal. Vick hält es ans Ohr und hört sie ab.
Ich frage mich, was der Feind über uns denkt, über diese Menschen, die die Gesellschaft kaum zu verteidigen versucht. Sie mähen uns nieder, und anschließend schwärmen wir in scheinbar nie versiegenden Scharen wieder herbei. Erscheinen wir ihnen wie Ratten, Mäuse, Flöhe, irgendein Ungeziefer, dessen man nicht Herr wird? Oder schwant dem Feind etwas über die Strategie der Regierung?
»Hört mal zu!«, ruft Vick. Er ist fertig mit dem Miniterminal. »Ich habe gerade eine Nachricht von einem verantwortlichen Funktionär erhalten.« Ein Murmeln geht durch die Menge. Die Jungs haben die Hände voller Schwarzpulver und glänzende Augen vor Hoffnung. Es fällt mir schwer, wegzuschauen. Worte kommen mir in den Sinn, ein vertrauter Rhythmus, und es dauert einen Moment, bis mir bewusst wird, was ich tue. Ich spreche die Worte für die Toten.
»Wir bekommen bald neue Dorfbewohner«, verkündet Vick.
»Wie viele?«, ruft jemand.
»Ich weiß nicht«, antwortet Vick. »Der Funktionär hat nur gesagt, sie seien anders, aber wir sollten sie wie alle anderen Dorfbewohner behandeln und wir seien verantwortlich für alles, was mit ihnen geschähe.«
Alle schweigen. Diese Drohung wurde bisher immer wahr gemacht – wenn irgendjemand einen anderen getötet oder verletzt hat, haben die Funktionäre ihn abgeholt. Und zwar ganz schnell. Wir haben es schon öfter erlebt. Die Gesellschaft hat keine Zweifel offengelassen: Wir dürfen einander keinen Schaden zufügen. Das bleibt dem Feind überlassen.
»Vielleicht wird eine große Gruppe geschickt!«, ruft jemand. »Vielleicht sollten
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