Cassia & Ky – Die Flucht
wir mit dem Kämpfen warten, bis sie angekommen sind.«
»Nein«, bestimmt Vick mit autoritärem Unterton. »Wenn der Feind heute Nacht angreift, schlagen wir auch heute Nacht zurück.« Er zeigt auf den aufsteigenden weißen Vollmond am Horizont. »Geht in Stellung!«
»Was meint er wohl damit?«, fragt Eli, nachdem die anderen gegangen sind. »Damit, dass die Neuankömmlinge anders sind?«
Vick presst die Lippen zu einem festen Strich zusammen, und ich weiß, dass wir dasselbe denken. Mädchen. Sie wollen Mädchen hier rausschicken.
»Du hast recht«, sagt Vick und sieht mich an. »Sie eliminieren die Aberrationen.«
»Und ich wette, sie haben die Anomalien schon alle vor uns erschossen«, sage ich, und kaum habe ich die Worte richtig ausgesprochen, sehe ich, wie Vick die Faust ballt und auf mein Gesicht zielt. Ich weiche gerade noch rechtzeitig aus. Er verfehlt mich, und instinktiv schlage ich ihm hart in den Bauch. Er stolpert rückwärts, stürzt aber nicht.
Eli schnappt nach Luft. Vick und ich starren einander an.
Der qualvolle Schmerz in Vicks Augen kommt nicht durch meinen Schlag. Vick ist schon viel früher verletzt worden, genau wie ich. Wir werden mit dieser Art von Schmerz fertig. Ich habe keine Ahnung, was diese Reaktion in ihm ausgelöst hat, doch ich weiß, dass er es mir niemals verraten wird. Ich bewahre meine Geheimnisse, er seine.
»Hältst du mich für eine Anomalie?«, fragt Vick leise. Eli tritt einen Schritt zurück, geht auf Distanz.
»Nein«, antworte ich.
»Und wenn ich eine wäre?«
»Dann wäre ich froh. Weil das bedeuten würde, dass einer überlebt hat. Oder dass mein Verdacht gegenüber den Vorgängen hier und den Plänen der Gesellschaft unbegründet ist …«
Vick und ich blicken beide hinauf zum Himmel. Wir haben dasselbe Geräusch gehört, dieselbe Veränderung gespürt.
Der Feind.
Der Mond steht hoch am Himmel.
Vollmond.
»Sie kommen!«, ruft Vick.
Andere Stimmen wiederholen den Ruf. Die Lockvögel rufen und schreien, und ich höre Angst und Wut und noch etwas anderes in ihren Stimmen, das ich von früher kenne. Die Freude darüber, sich wehren zu können.
Vick sieht mich an, und ich weiß, dass wir beide das Gleiche denken. Wir sind versucht, hierzubleiben und zu kämpfen. Doch ich schüttele den Kopf.
Nein!
Vick kann meinetwegen bleiben, ich nicht. Ich muss hier weg. Ich muss versuchen, zu Cassia zurückzukehren.
Lichtkegel von Taschenlampen huschen durch die Nacht, dunkle Gestalten rennen schreiend umher.
»Los!«
, sagt Vick.
Ich lasse meine Waffe fallen, packe Eli am Arm und sage: »Komm mit!« Verwirrt starrt er mich an.
»Wohin?«, fragt er. Ich zeige hinüber zu den Canyons, und er reißt die Augen weit auf. »Dahin?«
»Dahin«, bestätige ich. »Los!«
Eli zögert nur einen Moment, nickt, und wir rennen los. Ich lasse meine Waffe zurück. Vielleicht bedeutet sie eine Chance mehr für einen anderen, und aus dem Augenwinkel heraus sehe ich, wie auch Vick sein Gewehr hinlegt und das Miniterminal daneben.
Jetzt, im Dunkel der Nacht, habe ich das Gefühl, dass wir über den Rücken eines riesigen Tieres rennen. Wir sprinten über seine Wirbelsäule und durch Areale mit hohem, dünnem, goldenem Gras, das wie silberner Pelz im Mondlicht schimmert. Schon bald werden wir auf harten Fels treffen, wenn wir uns den Canyons weiter nähern. An diesem Übergang sind wir am wenigsten geschützt.
Weniger als einen Kilometer später merke ich, wie Eli langsamer wird. »Lass die Waffe fallen!«, rufe ich ihm zu, und als er es nicht tut, schlage ich sie ihm aus den Händen. Klappernd fällt sie zu Boden, und Eli bleibt stehen.
»Eli!«, dränge ich, und dann setzt der Beschuss ein.
Und das Schreien.
»Lauf!«, rufe ich Eli zu. »Hör nicht hin!« Auch ich versuche, meine Ohren zu verschließen – vor den Schreien, den Rufen, dem Sterben.
Wir erreichen den Rand des Sandsteinplateaus. Eli und ich holen Vick ein, der angehalten hat, um nach Atem zu ringen. »Da lang«, sage ich und zeige in die entsprechende Richtung.
»Wir müssen zurück und ihnen helfen«, wendet Eli ein.
Anstatt zu antworten, rennt Vick wieder los.
»Ky?«
»Lauf weiter, Eli.«
»Ist es dir egal, dass sie sterben?«, fragt Eli.
Pop-pop-pop.
Das armselige Knallen der Waffen, die wir gebrauchsfertig gemacht haben, ertönt hinter uns. Hier draußen klingt es leise und nichtig.
»Willst du nicht leben?«, frage ich Eli, wütend darüber, dass er es mir so schwermacht, dass er mich nicht
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