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Cassia & Ky – Die Flucht

Cassia & Ky – Die Flucht

Titel: Cassia & Ky – Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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über mir, festgeklammert an die Felsen. Eines ihrer Beine hängt neben mir herunter, aufgeschürft, blutig. Ich höre sie unterdrückt fluchen.
    »Alles okay mit dir?«, rufe ich nach oben.
    »Schieb!«, krächzt sie. »Schieb mich hoch!«
    Ich stemme meine Handflächen unter die Trittfläche ihres Stiefels, der von dem Lauf über die Ebene abgenutzt und von der Schlucht und den Felsen staubig ist.
    Einen schrecklichen Moment lang steht sie auf meinen Händen, so schwer, und ich weiß, dass sie da oben nichts zum Festhalten findet. Dann ist sie weg, der Druck ihres Stiefels verschwindet, und zurück bleibt nur ein Profil auf meiner Handfläche.
    »Ich bin oben!«, ruft sie hinunter. »Geh links rum. Ich kann dir sagen, wie du raufkommst.«
    »Ist das nicht zu gefährlich? Geht es dir wirklich gut?«
    »Ich bin selbst schuld. Das Gestein hier ist weicher als das, das ich gewöhnt bin. Ich habe den Vorsprung zu sehr belastet, und er ist abgebrochen.«
    Die Schürfwunden an ihrem Bein strafen die Aussage Lüge, der Stein sei weich, aber ich weiß, was sie meint. Hier ist alles so anders. Vergiftete Flüsse, poröser Stein. Man weiß nie genau, worauf man sich einlässt. Was halten und was nachgeben wird.
     
    Die zweite Hälfte des Aufstiegs verläuft reibungsloser. Indie hatte recht; der steile Teil war am schwersten zu überwinden. Ich habe mich an dünnen Felsrändern nur mit den Fingerkuppen festgehalten und musste meine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht loszulassen oder abzurutschen. Ich habe Arme und Knie in vertikale Spalten geklemmt und nach Indies Anleitung meine Kleidung und meine Haut als Reibungsflächen eingesetzt, um eng am Fels haftenzubleiben.
    »Gleich sind wir da«, verspricht sie mir. »Gib mir eine Minute und komm dann nach. Ist gar nicht übel.«
    Ich versuche, zu Atem zu kommen, und mache in einer Spalte Rast. Ich merke, wie mich der Fels hier hält, und lächle, schon allein davon belebt, wie hoch wir sind.
    Ky wäre begeistert. Vielleicht klettert er auch eine Felswand hinauf.
    Zeit für den Endspurt nach oben.
    Ich werde nicht nach unten oder zurück oder irgendwo anders hin als nach oben und nach vorn blicken. Mein leerer Rucksack verrutscht ein Stück, und ich schwanke. Meine Fingernägel bohren sich in den Stein.
Halte inne. Warte.
Etwas Leichtes, Geflügeltes fliegt an mir vorbei und erschreckt mich. Um mich zu beruhigen, denke ich an das Gedicht, das mir Ky zum Geburtstag geschenkt hat, das über das Wasser:
    Flut wars und der Reiher tauchte
    Als ich den Weg nahm über die Grenze
    Hier an dieser steinigen Küste fühle ich mich wie ein Wesen, das zurückgelassen wurde, nachdem sich das Wasser wieder zurückgezogen hat. In dem Versuch, zu einem Ort zu gelangen, an dem Ky sein könnte.
Doch selbst wenn er nicht dort ist, werde ich ihn finden. Ich werde wieder und wieder die Berge erklimmen, bis ich endlich dort bin, wo er ist.
    Ich halte kurz inne, um mein Gleichgewicht wiederzufinden, und dann blicke ich unwillkürlich über die Schulter.
    Die Aussicht ist völlig anders als die, die Ky und ich vom Gipfel des Hügels hatten. Keine Häuser, kein Rathaus, keine Gebäude. Nur Sand, Felsen und knorrige Bäume, aber ich bin bis hier oben heraufgeklettert, und wieder habe ich das Gefühl, als hätte mich Ky irgendwie begleitet.
    »Fast geschafft«, flüstere ich ihm und Indie zu.
    Ich ziehe mich über die Felskante, ein Lächeln im Gesicht, bis ich aufblicke.
    Wir sind nicht allein.
     
    Ich weiß jetzt, warum es heißt, bei einem Angriff würde »gefeuert«. Asche, überall. Eine Windböe erhebt sich über den Bergen und weht mir die Flocken in die Augen, so dass sie tränen und meine Sicht verschwimmt.
    Ich rede mir ein, es seien nur die Reste eines großen Feuers. Holzscheite, Rauch, der gen Himmel gestiegen ist.
    Doch Indies Gesichtsausdruck sagt mir, dass das nicht stimmt und auch ich der Wahrheit ins Auge blicken muss. Die schwarz verkohlten Gestalten, die kreuz und quer auf dem Boden liegen, sind keine Holzscheite. Sie sind echt, diese Dutzende von Leichen auf dem Plateau über der Schlucht. Indie bückt sich und richtet sich wieder auf. Sie hält etwas in der Hand. Ein verrußtes Seil, größtenteils intakt. »Lass uns gehen«, sagt sie, und die Asche an dem Seil färbt ihre Hand schwarz. Sie streicht eine Strähne ihrer roten Haare zurück, die im Wind flattern, und hinterlässt dabei versehentlich einen Streifen in ihrem Gesicht.
    Ich sehe die toten Menschen an. Auch sie sind

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