Cassia & Ky – Die Flucht
sie Hunter.
»In eine andere Schlucht«, antwortet Hunter. »Könnt ihr alle klettern?«
Als ich klein war, versuchte meine Mutter, mir die Farben beizubringen. »Blau«, sagte sie und zeigte zum Himmel. Und wieder »blau«, diesmal auf Wasser deutend. Sie hat mir erzählt, dass ich unwirsch den Kopf geschüttelt habe, weil ich erkannte, dass Himmelblau nicht immer das gleiche Blau wie Wasserblau war.
Es hat lange gedauert – bis ich in Oria lebte –, bis ich lernte, ein und dasselbe Wort für alle Schattierungen einer Farbe zu verwenden.
Daran denke ich, als wir durch den Canyon wandern. Die Felswände der Schlucht sind orange und rot, aber diese Farbtöne hätte man in der Gesellschaft so niemals gesehen.
Liebe hat verschiedene Schattierungen. Zum Beispiel die Art, wie ich Cassia liebte, als ich glaubte, dass sie mich niemals lieben würde. Die Art, wie ich sie auf dem Hügel liebte. Die Art, wie ich sie jetzt liebe, wo sie meinetwegen in die Berge gegangen ist. Meine Liebe zu ihr hat sich verändert. Sie ist tiefer geworden. Ich habe geglaubt, ich hätte sie vorher schon geliebt und begehrt, aber während wir gemeinsam durch die Schlucht wandern, wird mir klar, dass diese Liebe jetzt mehr als eine neue Schattierung sein könnte. Sie hat eine ganz neue Farbe.
Hunter hält an und zeigt am Felsen hinauf. »Hier«, sagt er. »Das ist die beste Stelle.« Er prüft das Gestein und blickt sich um.
Ich halte die Hand zum Schutz gegen die Sonne vor die Augen, so dass ich den Anstieg besser erkennen kann. Cassia wirft mir einen kurzen Blick zu und folgt meinem Beispiel. »Hier sind Indie und ich rübergekommen«, sagt sie, als sie die Stelle wiedererkennt.
Hunter nickt. »Diese Stelle ist für den Übergang am besten geeignet.«
»In der anderen Schlucht gibt es eine Höhle«, erzählt Indie Hunter.
»Ich weiß«, sagt Hunter. »Sie wird ›Kaverne‹ genannt. Und ihr sollt mir dabei helfen, herauszufinden, was sich darin befindet.«
»Wir sind nicht hineingegangen«, erwidert Cassia. »Sie ist fest verschlossen.«
Hunter schüttelt den Kopf. »Das scheint nur so. Aber meine Leute haben sie benutzt, seitdem sie in den Bergen leben. Nachdem die Gesellschaft sie sich angeeignet hat, haben wir einen Weg gefunden, wieder hineinzugelangen.«
Cassia sieht ihn irritiert an. »Aber dann wisst ihr doch …«
Hunter unterbricht sie. »Wir wissen, was darin ist. Aber nicht, warum.« Er schaut Cassia an, mit beunruhigend forschendem Blick. »Ich vermute, du könntest mir diese Frage beantworten.«
»Wer, ich?«, fragt sie erstaunt.
»Du warst länger ein Mitglied der Gesellschaft als die anderen«, sagt Hunter. »Das erkenne ich.« Cassia errötet und fährt mit einer Hand an ihrem Arm entlang, als wolle sie einen Makel abstreifen, den die Gesellschaft hinterlassen hat.
Hunter blickt Eli an. »Meinst du, du schaffst das?«
Eli starrt den Felsen hinauf. »Ja«, sagt er.
»Gut«, sagt Hunter. »Der Aufstieg ist nicht besonders schwer. Den könnte sogar jemand von der Gesellschaft bewältigen, wenn er es versuchen würde.«
»Und warum hat es bisher niemand getan?«, fragt Indie.
»Oh, das haben sie«, antwortet Hunter. »Aber dies war eines unser am besten bewachten Gebiete. Wir haben jeden abgefangen, der über die Felsen in die Schlucht zu klettern versuchte. Und ein Flugschiff kann man nicht hindurchmanövrieren, dafür ist sie zu schmal. Sie mussten zu Fuß kommen, und da waren wir im Vorteil.« Er zieht einen weiteren Knoten zu und hakt das Seil an einen der Metallhaken in der Wand. »Lange Zeit ist es gutgegangen.«
Doch nun haben sich die Farmer über die Ebene zurückgezogen. Oder sie liegen tot auf dem Hochplateau. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Gesellschaft es erfährt und sich die Canyons einverleibt.
Niemand weiß das besser als Hunter. Wir müssen uns beeilen.
»Früher sind wir hier überall geklettert«, erzählt Hunter. »Die Berge gehörten uns allein.« Er blickt hinunter auf das Seil in seinen Händen. Ich glaube, ihm wird plötzlich wieder bewusst, dass alle fort sind. Man sollte nicht glauben, dass es einem unter solchen Umständen gelingt, zu vergessen, aber manchmal kann man es – für einen oder zwei Augenblicke. Mir ist nie klar gewesen, ob das ein Vorteil oder ein Nachteil ist. Das Vergessen dämpft den Schmerz für einen Moment, aber die Erinnerung trifft einen anschließend umso härter.
Alles schmerzt. Manchmal – in Momenten der Schwäche – wünschte ich, die
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