Casteel-Saga 01 - Dunkle Wasser
meinte wohl, mein Gesicht sähe so aus, weil ich so viel geweint hatte. Er blieb im Dunkeln, und ich konnte ihn nicht gut sehen. Er glaubte, seine Küsse könnten die Schmerzen lindern – und sie taten es wirklich ein wenig. »Tut es sehr weh?« fragte er mitfühlend. Er sah traurig aus und blickte mich liebevoll an.
Mit seinen Fingerspitzen strich er mir zart über die aufgequollenen Lider. »Du siehst wunderschön aus, wenn du so in meinen Armen liegst und der Mond auf dein Gesicht scheint. Halb Frau, halb Kind, älter als sechzehn, aber doch noch so jung, verletzlich und unberührt.«
»Cal… Liebst du sie noch?«
»Wen?«
»Kitty.«
Er schien verdattert. »Kitty? Ich will nicht über Kitty reden. Sondern über dich. Und mich.«
»Wo ist Kitty?«
»Ihre Freundinnen«, begann er mit spöttischer Stimme, »haben beschlossen, daß Kitty etwas Besonderes verdient.« Er hielt kurz inne und lächelte voller Ironie. »Sie sind alle zu einer Männer-Striptease-Show gegangen und haben mich zurückgelassen, um auf dich aufzupassen.«
»Als ob ich ein Baby wär’…«
Lange blickte ich ihn an, während mir die Tränen die Wangen herunterliefen. Sein Lächeln wirkte jetzt verkrampft und zynisch. »Ich bin lieber bei dir als sonst irgendwo auf der Welt. Heute, unter all diesen Menschen, die tranken, aßen und über läppische Witze lachten, ist mir zum ersten Mal etwas aufgegangen; ich fühlte mich einsam ohne dich.« Seine Stimme klang jetzt tiefer. »Als du zu uns kamst, das muß ich fairerweise sagen, da wollte ich dich nicht. Ich wollte keine Vaterrolle übernehmen. Aber jetzt habe ich große Angst, daß Kitty dir etwas Furchtbares antun wird. Ich bin, sooft ich konnte, zu Hause gewesen. Aber ich habe dich vor nichts bewahren können. Erzähl mir, was sie dir heute angetan hat.«
Ich hätte ihm alles sagen und erreichen können, daß er sie hassen mußte. Aber ich fürchtete mich; nicht nur vor Kitty, sondern auch vor ihm, einem erwachsenen Mann, der sich in diesem Augenblick in eine Siebzehnjährige verliebt zu haben schien. Erschöpft und kraftlos lag ich in seinen Armen und lauschte seinem Herzschlag.
»Heaven, sie hat dich geschlagen, nicht wahr? Sie hat dich in einem neuen, teuren Kleid gesehen und versucht, es dir herunterzureißen, stimmt doch?« fragte er aufgeregt. Ich war so in meine Gedanken versunken, daß ich nicht bemerkte, wie er meine Hand an seine Brust preßte. Unter seinem Hemd spürte ich das regelmäßige Pochen seines Herzens. Ich wollte ihm klarmachen, daß ich ja sozusagen seine Tochter war. Niemand hatte mich je so liebevoll angesehen wie er – und ich hatte mich so lange nach Liebe gesehnt. Warum fürchtete ich mich vor ihm?
Er tröstete mich, aber zugleich jagte er mir Angst ein; ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart, aber zugleich hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich schuldete ihm viel, sehr viel. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Er sah mich mit eigenartig glasigen Augen an, so als hätte ich unwissentlich an etwas in ihm appelliert, vielleicht weil ich so passiv in seinen Armen lag. Verwundert spürte ich seine Lippen auf meinem Hals. Zitternd wollte ich ihn abhalten, aber ich fürchtete, seine Liebe zu verlieren.
Stieß ich ihn zurück, blieb mir niemand mehr, der mich vor Kitty schützte oder der sich für mich einsetzte… Und so ließ ich ihn gewähren.
Nachdem ich geweint hatte, war ich in einen Dämmerzustand abgeglitten, der mich festhielt und mich wehrlos machte… Es konnte doch nichts Schlimmes an seinen Zärtlichkeiten sein, wenn seine Lippen mich leicht berührten, um mich nicht mit zu stürmischen Annäherungsversuchen zu erschrecken, und dann blickte ich ihm ins Gesicht.
Er weinte: »Ich wünschte mir, du wärst nicht nur ein schönes Kind, sondern schon eine erwachsene Frau.«
Die Tränen in seinen Augen rührten mich. Er war, ebenso hilflos wie ich, verstrickt in Kittys Netz. Er hatte Schulden bei ihr und konnte nicht einfach verschwinden und Jahre der Arbeit so einfach wegwerfen. Und ich konnte ihn nicht einfach wegstoßen und ihm ins Gesicht schlagen; er war der einzige Mann, der gut zu mir gewesen war, und er hatte mir das Leben in Candlewick erträglicher gemacht.
Ich flüsterte »Nein, nein«, tat aber nichts, ihn davon abzuhalten, mich zu küssen und zu streicheln. Ich bebte am ganzen Körper, als blicke Gott auf mich herab und verdamme mich in die ewige Hölle – so wie Reverend Wise es immer gepredigt
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