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Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden

Titel: Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: V.C. Andrews
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erzählst, daß du jemand anderem helfen möchtest.«
    Wir blickten einander lange an. In seinen Augenwinkeln standen Tränen, doch er hielt sie zurück. Er wußte, wenn er ihnen freien Lauf lassen würde, dann würden auch meine Tränen fließen.
    »Nun«, sagte er plötzlich und klatschte in die Hände. »Du hast gesagt, du hättest es gestern geschafft, ohne Hilfe zu stehen?«
    »Ja.«
    »Nun, dann solltest du jeden Tag ein bißchen länger stehen und versuchen, die ersten Schritte zu machen.«
    »Genau das dachte ich auch, aber der Arzt sagte – «
    »Ärzte mögen sich mit dem Körper des Menschen auskennen, aber sie wissen oft nicht genug über das Herz.« Troy stand auf und stellte sich in einer gewissen Entfernung, aber dennoch so nahe vor mich hin, daß er mich nötigenfalls auffangen konnte. »Ich möchte, daß du noch einmal stehst und daß du diesmal versuchst, einen Schritt auf mich zuzumachen.«
    »Oh, ich weiß nicht… Ich…«
    »Unsinn, Annie Stonewall. Du schaffst das schon. Du bist Heavens Tochter, und Heaven würde auch nicht hier sitzen und sich selbst bemitleiden. Und sie würde bestimmt nicht lange auf die Hilfe anderer Leute angewiesen bleiben.«
    Seine Worte hatten eine magische Wirkung auf mich. Ich schluckte und biß mir leicht auf die Unterlippe. Dann stützte ich mich fest auf die Armlehnen und befahl meinen Füßen, sich von den Fußstützen auf den Boden zu bewegen. Langsam, wie in Zeitlupe taten sie es. Troy nickte mir ermutigend zu. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich angestrengt darauf, meine Beine durchzudrücken.
    »Laß deine Füße eins werden mit dem Boden«, flüsterte er mit beschwörender Stimme. »Deine Fußsohlen kleben auf der Erde. Sie kleben…«
    Ich fühlte, wie ich Druck ausübte. Ja, ich preßte meine Füße auf den Boden. Meine Beine strafften sich, die unsicheren Muskeln spannten sich an, und ich drückte meine Arme von den Stuhllehnen ab. Langsam, aber in einer fließenderen Bewegung als am Tag zuvor, erhob ich mich. Und schließlich stand ich. Ich öffnete die Augen und sah, daß Troy lächelte.
    »Gut. Jetzt hab keine Angst. Mach einen Schritt. Nimm die Arme weg vom Stuhl.«
    »Ich glaube, das traue ich mich noch nicht. Wenn ich falle…«
    »Du wirst nicht fallen. Ich werde dafür sorgen, Annie. Geh auf mich zu, geh auf mich zu«, forderte er mich in beschwörendem Tonfall auf und streckte mir die Arme entgegen, so daß ich nur ein oder zwei Schritte machen mußte, um ihn zu erreichen. »Geh auf mich zu… komm zu mir, Annie.«
    War es dieses drängende Bitten oder war es die Tatsache, daß seine Stimme jener glich, die mich im Traum aus der Dunkelheit ins Licht gerufen hatte? Irgend etwas gab mir den Willen und die Kraft, es zu versuchen. Ich spürte, wie sich mein zitterndes rechtes Bein ein ganz klein wenig vorwärts bewegte, wobei sich mein Fuß kaum vom Boden abhob. Mein linkes Bein folgte.
    Es war ein Schritt! Ein Schritt!
    Ich schaffte noch einen, dann aber ließ mich mein Körper im Stich. Nach der ganzen Anspannung wurde er plötzlich schlaff, und meine Beine versagten. Ich hatte jedoch nur für einen winzigen Moment das Gefühl zu fallen; dann fingen mich Troys Arme sicher auf, und ich sank an seine Schulter.
    »Du hast es geschafft! Du hast es geschafft, Annie! Es geht aufwärts. Nichts kann dich jetzt mehr zurückhalten!«
    Plötzlich flossen meine Tränen. Sie ließen einen Regenbogen des Glücks in blauen und gelben Farben und einen Schleier der Traurigkeit in grauen Schattierungen vor mir entstehen. Ich weinte wegen meines Erfolgs, und ich weinte, weil ich in den Armen eines Menschen lag, der – das wußte ich jetzt – warm und voller Liebe sein konnte und doch gefangen war in einer Welt der Dunkelheit…
    Er half mir in meinen Rollstuhl und machte dann einen Schritt zurück. Stolz blickte er auf mich herunter – wie ein Vater, der gerade miterlebt hatte, wie sein Baby die ersten Schritte macht.
    »Ich danke dir.«
    »Ich bin es, der sich bedanken muß, Annie. Du hast es geschafft, daß die Wolken sich heute ein wenig verzogen haben und ein wenig Sonnenlicht in meine Welt gedrungen ist. Aber«, sagte er und blickte auf seine Großvateruhr, »ich hätte dich schon längst zurückbringen sollen. Wenn sie dort tatsächlich keine Ahnung haben, wo du bist, dann sind sie sicher schon ganz außer sich vor Sorge.«
    Alles, was ich zustande brachte, war ein Nicken. Ich war völlig erschöpft, und die Aussicht, in meinem großen, bequemen

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