Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Urgroßmutter Jillian.«
»Wie meinst du das?« Er beugte sich in seinem Stuhl vor und faltete seine schmalen Hände, während er sich mit den Ellbogen auf seinen Knien aufstützte.
»Er redet mit mir, als wäre ich eine von ihnen und bezieht sich auf Dinge, die ich gar nicht wissen kann.«
Er starrte mich mit besorgtem Blick an. »Wie lange wirst du hier in Farthy bleiben?«
»Eigentlich war vorgesehen, daß ich bleibe, bis ich wieder ganz gesund bin; aber ich habe Drake heute schon gesagt, daß ich nach Hause möchte!« Plötzlich überfluteten mich all die Gefühle, die sich in mir aufgestaut hatten – daß man mich eingesperrt hatte, daß ich von einer grausamen Krankenschwester gequält worden war, daß ich nun mit Tony lebte, der sich ständig von einer Welt in die andere bewegte. »Und ich werde nach Hause gehen!« sagte ich.
»Ja, das solltest du tun. Wenn du hier nicht glücklich bist und dich nicht richtig wohl fühlst, dann ist es besser, du gehst«, erklärte er. Er sagte es mit so viel Überzeugung, und seine Augen blickten so entschieden, daß ich plötzlich Furcht verspürte.
»Wer sind Sie… wer sind Sie wirklich? Sie wissen zu viel über diese Familie, als daß Sie ein gewöhnlicher Angestellter sein könnten!«
Er lehnte sich wieder zurück und starrte mich lange an. Mein Herz hämmerte wild in meiner Brust.
»Die Frage ist, ob du es für dich behalten kannst, wenn ich es dir sage. Es ist wichtig für mich, daß niemand oder höchstens nur ganz wenige Menschen über mich Bescheid wissen. Ich liebe mein anonymes Leben hinter dem Labyrinth. Es macht mich glücklich, hier mit meinen Erinnerungen und meiner Arbeit zu leben, die, wie du siehst, einen Großteil meiner Zeit in Anspruch nimmt.« Er hielt inne und sagte dann mit sehr trauriger Stimme: »Es ist das Leben, das ich selbst gewählt habe. Ich hatte allerdings nie gedacht, daß ich so lange leben würde.«
»Warum nicht? So alt sind Sie doch gar nicht?«
»Nein, aber als ich jünger war, war ich häufig krank, und ich träumte, ich würde sehr jung sterben… Ich dachte, ich würde nicht älter als dreißig werden. Doch ich lebe immer noch. Der Tod weigert sich, mich anzunehmen. Ich frage nicht nach dem Warum; ich lebe eben weiter, mache meine Arbeit, lebe dieses friedvolle Leben und bin zufrieden mit dem, was ich habe. Auf gewisse Weise habe ich mit mir selbst Frieden geschlossen, mit all meinen Ängsten und Problemen. Meine Vergangenheit ist für mich wie eine verheilte Wunde; ich will auf keinen Fall etwas tun, was sie je wieder aufbrechen lassen könnte.« Er richtete seine Augen auf mein Gesicht; sanfte, warme Augen, die mich baten, ihm Vertrauen zu schenken…
»Also… kannst du ein Geheimnis für dich behalten, das so wichtig ist wie dieses?«
»O ja«, versicherte ich ihm.
»Ja, ich glaube, du kannst es. Ich weiß nicht, warum ich es tue, aber ich vertraue dir… so wie ich… wie ich meiner eigenen Tochter vertrauen würde, wenn ich eine hätte.«
»Meine Mutter hat mir immer ans Herz gelegt, das zu achten, was anderen Menschen wertvoll ist; auch wenn es mir selbst nicht so wertvoll erscheint.«
»Ja, das klingt nach ihr.«
»Da, sehen Sie. Sie kennen sie so gut! Sie können nicht nur ein gewöhnlicher Angestellter sein!«
Er lächelte.
»Ich hätte mich doch weiterhin im Schatten verbergen sollen, Annie. Ich hätte wissen müssen, daß du die Wahrheit herausfinden würdest.«
»Was ist die Wahrheit?« Ich wartete und wagte kaum zu atmen.
»Ich bin nicht Troy Tattertons Assistent; ich bin Troy Tatterton.«
Es war eigenartig, aber Troys Enthüllung schockierte mich längst nicht so, wie man vielleicht hätte erwarten können. Immerhin hatte mir jeder von seinem Tod erzählt und von ihm gesprochen, als wäre er schon lange Zeit nicht mehr am Leben. Doch nun hatte ich das Gefühl, als hätte ich immer schon gewußt, daß er nicht tot war…
»Wenn Rye Whiskey Sie sieht, hält er Sie wahrscheinlich für einen seiner Geister«, sagte ich.
»Rye…« Er lächelte. »Wahrscheinlich hast du recht. Übrigens, Annie, wenn du schon weißt, daß ich zur Familie gehöre, kannst du mich eigentlich auch mit du anreden…«
Ich tat es gerne und ohne Schwierigkeiten, denn ich hatte ohnehin das Gefühl, als würde mich mit diesem Mann mehr verbinden als dieses kurze Gespräch. »Jetzt, wo du mir erzählt hast, wer du wirklich bist, wirst du mir auch sagen, warum du jeden in dem Glauben gelassen hast, du seist tot?« fragte
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