Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
dem er auch meinen Onkel Keith, Drakes Stiefbruder, einen Mann von dem wir alle nicht viel hörten und sahen, entdeckt hatte. Ich war also nicht überrascht, einen Brief von ihm zu bekommen; was mich aber erstaunte, war der Umfang.
Ich streckte mich auf meiner gestreiften Bettdecke aus und öffnete Drakes Brief.
Liebe Annie,
ich habe Neuigkeiten für Dich, die Dich interessieren werden. Auch für mich war es sehr aufregend, aber versuche bitte, sie vor Heaven geheimzuhalten.
Nach Deinem wunderbaren Geburtstagsfest habe ich den ganzen Rückweg über die Faszination von Farthinggale Manor nachgedacht und über die Art, wie Luke und Du es Euch von klein auf als etwas Phantastisches vorgestellt habt. Ich kam zu dem Schluß, daß der einzige Grund für Euer albernes Benehmen darin liegt, daß Ihr, ebenso wie ich, kaum etwas darüber oder über den mysteriösen Tony Tatterton, meinen Stiefgroßonkel und Deinen Stiefurgroßvater, wißt. So habe ich etwas getan, worüber sich Heaven sicher sehr aufregen würde, aber es schien mir der einzig gangbare Weg zu sein.
Annie, ich habe einen Brief an Tony Tatterton geschrieben, mich vorgestellt und angefragt, ob ich ihn besuchen könnte.
Er konnte ihn erst wenige Minuten zuvor erhalten haben, als ich einen Anruf von einem Mann mit einer sehr vornehm klingenden Stimme bekam, der mich nach Farthinggale Manor einlud. Der Mann war Tony Tatterton, und ich habe seine Einladung angenommen.
Ja, Annie, ich bin gerade aus Deinem magischen Königreich zurückgekommen und habe Dir einige traurige, ja tragische und doch faszinierende Neuigkeiten mitzuteilen.
Zuerst muß ich sagen, daß es wirklich ein sehr großer Besitz ist. Und auch das schmiedeeiserne Tor ist da. Oh, es ist nicht ganz so riesig, wie Ihr beide es Euch immer vorgestellt habt, aber doch recht groß.
Aber das ist auch das einzige, was an Euren Phantastereien stimmt. Glaub mir, ich sage das nicht, weil ich mich oft über Luke und Dich lustig gemacht habe, wenn Ihr behauptet habt, Farthinggale sei ein magisches Schloß. Jetzt hat es absolut nichts Magisches mehr, sondern nur etwas Tragisches.
Die großen Türen quietschten, als sie geöffnet wurden. Ein Butler, alt wie Methusalem, begrüßte mich, und ich betrat das Haus. Die Eingangshalle erschien mir ebenso riesig wie die Turnhalle des Gymnasiums von Winnerrow, aber sie war nur spärlich erleuchtet, und überall waren die Vorhänge zugezogen, so daß ich fröstelte.
Die hohe Marmortreppe weckte einige Kindheitserinnerungen in mir. Der Butler führte mich zu einem Büro auf der rechten Seite der Halle, und dort traf ich unseren Tony Tatterton. Er saß hinter einem großen Mahagonischreibtisch, auf dem nur eine einzige kleine Lampe brannte, um den Raum zu erhellen. Im Schatten des dunklen Zimmers wirkte er ganz verloren, doch als er mich erblickte, stand er schnell auf und befahl dem Butler, die Vorhänge zu öffnen.
Auch wenn er absolut nicht meiner Vorstellung von einem Multimillionär entsprach, wirkte er warmherzig und intelligent auf mich. Er hat sich sehr für meine Karriere interessiert, und als er hörte, daß ich Wirtschaftswissenschaften studiere, hat er mir sofort die Möglichkeit angeboten, in seinem Unternehmen zu arbeiten. Kannst Du Dir das vorstellen?
Natürlich ging es bei unserer Unterhaltung vor allem um Deine Mutter und um Dich. Er wollte alles über Euch erfahren. Am Ende war ich ziemlich traurig, denn er wirkte so verlassen und einsam in dem riesigen Haus, so begierig nach allem, was ich ihm über die Familie erzählen konnte.
Natürlich kamen wir nicht auf die Gründe zu sprechen, warum Heaven den Kontakt zu ihm abgebrochen hat, aber ich will Dir eines sagen: Nachdem ich eine Weile mit Tony Tatterton auf Farthinggale Manor verbracht habe, wünsche ich mir, daß sich diese Kluft zwischen ihnen irgendwie überbrücken ließe.
Wenn ich Dich sehe, werde ich Dir Genaueres erzählen. Wenigstens wirst Du nun, was Farthinggale Manor betrifft, nicht mehr nur von Lukes und Deiner Phantasie abhängig sein. Du hast einen Zeugen, der Dir die Wahrheit erzählen wird. Vielleicht hast Du dann keine Lust mehr, es weiterhin zu malen, aber es wäre bestimmt ein Vorteil, denn dann könntest Du Dich fröhlicheren Motiven zuwenden.
Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.
In Liebe, Drake.
Ich ließ den Brief sinken. Aus irgendeinem Grund war ich in Tränen ausgebrochen, Tränen, die ich nicht bemerkt hatte, die jedoch die ganze Zeit, während ich las,
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