Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Papier hatte eine cremefarbene Schachtel verhüllt. Ich öffnete den Deckel und sah zunächst Seidenpapier. Als ich es zur Seite schob, fiel mein Blick auf einen Bronzestich, auf dem ein großes Haus zu sehen war. Darunter waren die Worte »Farthinggale Manor, unser magisches Schloß, in Liebe, Luke.« eingraviert.
Ich sah ihn verwirrt an. Er beugte sich vor und ergriff meine Hände, während er es mir erklärte:
»Eines Tages, als ich in einem alten Koffer meiner Mutter auf dem Dachboden stöberte, stieß ich auf einen Zeitungsausschnitt, den sie aufgehoben hatte. Es war die Seite mit der Rubrik »Vermischtes«, und dort war ein Artikel über den Hochzeitsempfang deiner Eltern abgedruckt. Es gab auch ein Foto von den Gästen der Party, und im Hintergrund konnte man deutlich Farthinggale Manor sehen. Ich habe es zu einem Fotografen gebracht, der das Haus herausfotografiert hat, und dann habe ich danach diesen Bronzestich anfertigen lassen. Das alles war gar nicht einfach!«
»O Luke!« Meine Finger fuhren über das Relief des Stichs.
»So wirst du, wo immer du auch sein magst, nie unser Märchenspiel vergessen«, sagte er liebevoll.
»Nie!«
»Natürlich«, sagte er und lehnte sich hastig zurück, denn ihm war aufgefallen, wie nahe sich unsere Gesichter gekommen waren, »zeigt das Bild das Haus, wie es vor Jahren war. Wer weiß, wie es heute aussieht.«
»Es ist ein wunderbares Geschenk«, rief ich aus, »denn es hat eine besondere Bedeutung für uns. Nur du konntest auf so eine Idee kommen! Ich werde es vor meiner Mutter verstecken müssen. Du weißt ja, wie sie reagiert, wenn wir von Farthy sprechen.«
»Oh, darum wollte ich dich auch gerade bitten. Ich will ihr nicht noch mehr Anlaß dazu geben, mich nicht zu mögen.«
»Aber sie mag dich doch, Luke. Du solltest nur hören, wie sie über dich spricht. Sie ist sehr stolz auf dich, wirklich!« rief ich.
»Wirklich?«
Ich sah, wie wichtig es für ihn war.
»Ja, ganz bestimmt. Sie redet dauernd davon, daß du die Abschlußrede für unsere Klasse halten wirst. Sie findet es wunderbar, wie du alle Schwierigkeiten gemeistert und dich an die Spitze gesetzt hast.«
Er nickte gedankenvoll.
»Es ist vielleicht schwieriger, die höchsten Berge zu erklimmen, Annie«, sagte er, »aber die Aussicht, die man von dort oben hat, lohnt die Anstrengung. Strebe nach den höchsten Gipfeln, das war immer mein Wahlspruch.« Er blickte mich an. Aber der Berg, der sich zwischen uns erhob, war zu hoch…
»Komm jetzt«, sagte ich und sammelte das Geschenkpapier, die Karte und den Stich ein. »Es ist Zeit für eine Probefahrt in meinem neuen Auto.«
Ich ergriff seine Hand und lief über den Rasen zum Auto hinüber. Später brachte ich dann mein Geschenk in mein Zimmer und legte es zu meinen ganz persönlichen Sachen. Abends, ehe wir zum Essen gingen, kam Drake zu mir herauf und fragte, was Luke mir geschenkt habe. Er wußte, daß wir seit unserem zwölften Geburtstag immer Geschenke ausgetauscht hatten. Ich zeigte ihm den Stich erst, nachdem er mir versprochen hatte, meiner Mutter nichts davon zu erzählen.
»Das Haus sieht nicht so aus«, sagte er, als ich die Schachtel öffnete, »zumindest habe ich es nicht so in Erinnerung.«
»Es muß aber so sein, Drake. Er hat ein Bild gefunden und es zu einem Fotografen gebracht.«
»Ich weiß nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Magisches Schloß. Dieser Ort beschäftigt dich noch immer sehr, stimmt’s?«
»Ja Drake, ich kann es nicht ändern.«
Er nickte. Seine Augen waren schmal und sein Blick gedankenverloren. Ich legte das Geschenk weg, und wir gingen zu meinen Eltern, um zu meinem Geburtstagsessen aufzubrechen. Aber abends, ehe ich zu Bett ging, holte ich es wieder hervor und betrachtete es. Dabei fragte ich mich, ob Drake nicht recht hatte, sich über unser Märchenspiel lustig zu machen. Würde ich wirklich jemals einen so wunderbaren, magischen Ort finden? Ich bezweifelte es.
Einige Tage später bekam ich einen Brief von Drake. Er schrieb mir oft, um mir von seinem Leben im College zu erzählen oder mir einen Rat zu geben. Auch wenn er mich bisweilen tyrannisierte oder grausam zu Luke war, vermißte ich doch seine Klugheit, seinen Humor und sein Großer-Bruder-Gehabe. Daher freute ich mich immer sehr über seine Briefe und Anrufe. Gewöhnlich berichtete er von den Collegestudentinnen, den Studentenvereinigungen und seinen Erlebnissen in Harvard. Er erzählte von dem Bild des Ruderteams der Meisterschaftsklasse, auf
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