Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
sollte mir helfen, meine Muskeln wieder aufzubauen, bis ich die Gehhilfe nicht mehr brauchen würde. Außerdem verschrieb er mir Krücken, die ich ausschließlich dazu verwenden sollte, das Gleichgewicht zu bewahren. Wenige Tage später kam ich allein die Treppen hinauf und hinunter und konnte endlich ohne Hilfe aus dem Haus gehen. Das erste was ich tat war, daß ich mich in den Pavillon setzte und über alles nachdachte, was zwischen Luke und mir geschehen war. Tante Fanny kam zu mir heraus und bestand darauf, daß ich eine Jacke anziehen sollte.
»Es ist ganz schön kalt, und du bist noch längst nich wieder richtig auf ‘m Damm.«
Dann war es endgültig Herbst geworden. Eines Morgens fiel mir plötzlich auf, daß fast alle Blätter eine rostrote oder goldene Färbung angenommen hatten.
Ich dachte daran, wie sehr Mammi den Herbst geliebt hatte. Sie hatte immer gesagt, daß er in den Willies ganz besonders schön sei. »Ich liebte es, im Herbst durch den Wald zu wandern. Die Bäume über mir leuchteten wunderschön im Sonnenlicht, und jeder Baum hatte seinen eigenen Farbton: gelb wie Bernstein, Zitrone, Safran; oder braun wie Haselnuß, Ingwer oder dunkles Mahagoni. Geh im Herbst in den Wald, Annie«, hatte sie zu mir gesagt, »für eine Malerin wie dich sind all diese Farben doch bestimmt sehr anregend.«
Das war richtig, aber wenn ich jetzt daran dachte, fielen mir nur wieder die Waldspaziergänge mit Luke ein… Wie sehr wünschte ich mir, er wäre jetzt bei mir, jetzt, da ich wieder auf meinen eigenen Füßen stand! Doch er war wieder auf dem College und versuchte wohl, mich zu vergessen.
Ich begann ein Bild von Luke zu malen. Zuerst skizzierte ich den Pavillon und dann ihn, wie er dort stand und nachdenklich über die Felder blickte. Während ich an dem Bild arbeitete, ließ der Schmerz ein wenig nach, sobald ich jedoch aufhörte zu malen, fühlte ich wieder den furchtbaren Verlust… Ich zögerte die Fertigstellung des Bildes hinaus, fand hier und dort noch etwas zu verbessern, fügte die eine oder andere Kleinigkeit hinzu und veränderte ein paar Details. Wenn ich dann den Pinsel weglegte und zurücktrat, wußte ich nicht, ob ich das Bild eher liebte oder haßte.
Ich hatte mein ganzes Gefühl in dieses Bild gelegt. Luke war gut getroffen – die Haltung, wie er seinen Kopf ein wenig nach rechts neigte, wenn er intensiv über etwas nachdachte; die Haarsträhnen, die ihm immer in die Stirn zu fallen schienen; der Ausdruck, den seine Augen annahmen, wenn er mich ansah und meine Liebe zu ihm in den meinen erkannte.
Aber das Bild verhöhnte und quälte mich. Es weckte die Sehnsucht in mir, seine Stimme zu hören und zu spüren, daß er da war. Das also ist es, was einen Künstler in einen glücklichen Rausch versetzt und gleichzeitig martert, dachte ich: Die Liebe zu etwas, was man selbst geschaffen hat und doch niemals wirklich besitzen kann.
Ich wurde richtig schwermütig, wenn mich solche Gedanken überkamen. Früher, wenn ich Sorgen und Kummer hatte, konnte ich zu Mammi gehen. Dann bedachte sie mich mit ihrem wärmsten Lächeln, und wie durch einen Zauber wurde mir sogleich leichter ums Herz. Manchmal blätterten wir irgendwelche Modezeitschriften durch und erörterten die Kleider wie zwei Teenager. Wir kicherten über alles, was wir komisch fanden, und seufzten sehnsuchtsvoll angesichts der schönen Modelle.
Das Zimmer meiner Eltern hatte ich noch immer nicht betreten. Mir fehlte einfach der Mut, in den Raum zu gehen, in dem sie geschlafen hatten, und in den ich so oft gegangen war, wenn mich ein böser Traum gequält hatte. Ich fürchtete mich davor, ihr leeres Bett zu sehen, ihre Schränke und Kleider, die Schuhe meines Vaters, den Schmuck meiner Mutter, die Fotos und alles andere, was einst ihnen gehört hatte.
Doch ich wußte, wenn ich mein Leben weiterleben und mit der schrecklichen Tragödie fertigwerden wollte, dann mußte ich mich mit dem auseinandersetzen, was ich so sehr geliebt und dann verloren hatte. Ich mußte den Schmerz und die Trauer lernen!
Mit kleinen, vorsichtigen Schritten und gestützt auf meine Krücken verließ ich mein Zimmer. Im Korridor blieb ich stehen, zögerte erneut, mich ihrem Schlafzimmer zu nähern. Doch diesmal dauerte mein Zaudern nicht lange; ich war entschlossen, nicht zurückzuweichen.
Ich öffnete die Tür. Die Vorhänge waren zurückgezogen und die Fenster geöffnet. Alles war so hübsch und ordentlich wie damals in jener Nacht, in der sich der
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