Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
saß, klappte sie die rechte Armlehne wieder herunter und stellte die Fußstützen richtig ein, so daß meine Beine festen Halt hatten.
»Dieser kleine Hebel dient dazu, den Rollstuhl zu blockieren, damit er nicht wegrollen kann. Um ihn in Bewegung zu bringen, bedarf es keines großen Kraftaufwands. Schieben Sie die Räder einfach leicht an, und lassen Sie sich von dem Schwung tragen. Wenn Sie nach links fahren wollen, drücken Sie diesen Metallhebel herunter. So, und nun üben Sie«, befahl sie, während ich durch das Zimmer rollte.
Wie sehr wünschte ich mir, daß Drake oder Luke hier wären! Ich brauchte ihre Unterstützung. Drake würde sagen, daß ich wie ein kleines Mädchen in einem Spielzeugauto aussähe. Auch Luke würde sich eine lustige Bemerkung ausdenken, und nur in seinen Augen würde ich seine tiefe Trauer lesen.
Mrs. Broadfield sah mir zu und gab mir Ratschläge; dann entschied sie, daß es für’s erste genug wäre. Sie schob mich zurück zu meinem Bett und machte dieselben Handgriffe wie zuvor, jetzt allerdings in umgekehrter Reihenfolge, um mich wieder in mein Bett zu bringen. Dann schob sie den Rollstuhl beiseite und verließ das Zimmer, um nach meinem Abendessen zu sehen.
Ich lag da und starrte auf den Rollstuhl, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich mich mit ihm würde anfreunden müssen. Obwohl Tony offensichtlich keine Kosten gescheut hatte, damit er wie ein bequemer normaler Sessel aussah, war sein Zweck doch unverkennbar. Ich war behindert, ein Krüppel, verdammt zur Abhängigkeit von anderen Menschen und technischen Hilfsmitteln. Und das konnten auch alles Geld der Welt und die teuerste Betreuung nicht ändern. Nur ich selbst konnte diese Zustand verändern.
Um mich herum gab es am nächsten Tag so viel Aufregung, daß Mrs. Broadfield fast den ganzen Tag meine Zimmertür geschlossen hielt, um mich abzuschirmen, bis die Zeit zum Aufbruch endlich gekommen war. Die Krankenschwestern der Station, die oft auf einen Sprung hereingekommen waren, um zu plaudern oder eine Zeitschrift auszuleihen, erschienen jetzt, um sich zu verabschieden und mir Glück zu wünschen. Auch einige Hilfsschwestern und Krankenpfleger schauten herein; und selbst meine »Pink-Dame« wollte mich noch einmal sehen. Am Abend zuvor hatte Tony mir eine Schachtel gebracht, die ein malvenfarbenes Kleid enthielt. Es sah zwar nagelneu aus, doch mir fiel auf, daß es der Mode entsprach, die man vor fünfundzwanzig Jahren getragen hatte.
»Es hat deiner Mutter gehört«, erklärte er. »Ich habe es ihr gekauft, als sie nach Winterhaven ging. Du hast jetzt ungefähr dieselbe Größe wie sie damals. Gefällt es dir?«
»Es ist ein wunderbares Kleid. Es ist zwar nicht das, was junge Mädchen heutzutage tragen, aber wenn es meiner Mutter gehört hat…«
»Sie sah wundervoll darin aus. Und außerdem, Annie, du willst dich doch wohl nicht zum Sklaven der Mode machen. Schöne Dinge sind zeitlos. Das begreifen die meisten jungen Mädchen heute nicht; sie sind Opfer der aktuellen Mode, der Werbung und kurzlebiger Trends. Ich bin sicher, daß du den guten Geschmack deiner Mutter geerbt hast und den Sinn für Dinge, die zeitlos schön sind.«
Ich wußte nicht, was ich darauf erwidern sollte. Meine Mutter war zwar darauf bedacht gewesen, daß ich hübsch gekleidet war, aber sie hatte mir immer erlaubt, meine Sachen selbst auszusuchen. Sie hatte nie versucht, mir ihren Geschmack aufzudrängen, und meinem Vater hatte es gefallen, wenn ich Jeans und übergroße Sweatshirts trug.
Tony hatte aber vermutlich trotzdem recht. Wie meine Mutter neigte ich eher dazu, mich feinzumachen. Darin unterschied ich mich von anderen Mädchen meines Alters.
»Ich habe das Kleid mitgebracht, damit du es morgen anziehen kannst. Denn morgen ist ein besonderer Tag für dich. Du wirst das Krankenhaus verlassen und nach Farthy zurückkehren.«
»Zurückkehren?«
»Ich meine, mit mir nach Farthy zurückkehren«, berichtigte er sich hastig. »Außerdem wird es dir Glück bringen, wenn du ein Kleid trägst, das deiner Mutter gehört hat.«
Am nächsten Morgen half mir Mrs. Broadfield, das Kleid anzuziehen, und schob mich dann vor den Spiegel, der über dem Waschbecken des Krankenzimmers hing. Es war erstaunlich, wie sehr ich in diesem Kleid meiner Mutter glich. Mrs. Broadfield erklärte sich bereit, mir beim Kämmen zu helfen, und ich frisierte mein Haar zurück, wie ich es auf alten Bildern von meiner Mutter gesehen hatte. Wenn ihr Haar auch ein wenig
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