Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Blick an den Kleidungsstücken hängengeblieben war.
»Einige dieser Kleider gehörten deiner Mutter, andere deiner Großmutter. Sie hatten fast die gleiche Größe. Ungewöhnlich, nicht? Dir wird auch alles passen. Du mußt dir nichts Neues kommen lassen. Hier wartet eine riesige Garderobe auf dich.«
»Aber Tony, viele dieser Kleider sind doch sicher längst aus der Mode.«
»Du wirst dich wundern. Ich habe bemerkt, daß viele der alten Moderichtungen wieder ganz aktuell sind. Es wäre doch schade, wenn das alles umsonst hier hinge!«
Mrs. Broadfield kam aus dem Badezimmer und schlug die Bettdecke zurück.
»Ich wollte dir eigentlich ein richtiges Krankenhausbett hier hereinstellen lassen«, erklärte Tony, »aber ich habe mir gedacht, das Bett hier ist doch viel bequemer und hübscher. Wir haben zusätzliche Kissen bereitgelegt, ein Bettischchen und ein Kissen mit gepolsterten Armlehnen, wenn du sitzen und lesen möchtest.«
»Ich möchte nicht gleich ins Bett gehen!« sagte ich. »Schieb mich doch bitte ans Fenster, Tony, damit ich die Aussicht genießen kann.«
»Sie sollte sich ein bißchen ausruhen«, riet Mrs. Broadfield. »Die Entlassung aus dem Krankenhaus und die lange Fahrt hierher waren sehr anstrengend für sie, auch wenn sie es gar nicht so wahrnimmt.«
»Nur ganz kurz, bitte«, bettelte ich.
»Ich will ihr wenigstens schnell die Aussicht zeigen.«
Mrs. Broadfield verschränkte die Arme unter ihrem schweren Busen, trat einen Schritt zurück und wartete. Tony schob mich ans Fenster und öffnete die Vorhänge, damit ich nach draußen in den Park schauen konnte. Wenn ich den Blick nach links wandte, konnte ich von hier oben mindestens die Hälfte des Irrgartens überblicken. Selbst im hellen Licht des späten Vormittags wirkten die Pfade und Wege düster, geheimnisvoll, gefährlich. Wenn ich nach rechts schaute, blickte ich über die Auffahrt und den Eingang von Farthinggale. In der Ferne konnte ich den Familienfriedhof erkennen; und ich erblickte ein großes Grabmal… Bestimmt war es das meiner Eltern.
Einen Augenblick lang brachte ich kein Wort über die Lippen. Schmerz und Trauer übermannten mich, und ich fühlte mich verloren, hilflos, gelähmt vor Kummer. Aber dann schob ich die Erinnerungen beiseite, atmete tief durch und beugte mich nach vorne, um das Grabmal genauer sehen zu können. Tony merkte, was meine Aufmerksamkeit erregt hatte.
»In ein paar Tagen werde ich dich dorthin bringen«, flüsterte er.
»Ich hätte gleich hingehen sollen.«
»Wir müssen uns zuerst einmal darum kümmern, daß du wieder zu Kräften kommst. Das hat der Arzt befohlen«, erinnerte er mich. »Aber ich verspreche dir, daß ich sehr bald mit dir dorthin gehen werde.« Er tätschelte beruhigend meine Hand und richtete sich wieder auf.
»Ich glaube, ich bin wirklich müde«, gab ich zu und lehnte mich in meinem Rollstuhl zurück. Dann schloß ich die Augen und holte tief Luft. Zwei Tränen rollten wie warme Regentropfen über meine Wangen zu meinen Mundwinkeln. Tony holte ein zusammengefaltetes Taschentuch hervor und trocknete vorsichtig meine Tränen. Mit den Lippen formte ich ein »Danke«. Er drehte meinen Stuhl um, schob mich zum Bett und half Mrs. Broadfield, mich hochzuheben.
»Ich werde ihr jetzt das Nachthemd anziehen, Mr. Tatterton.«
»Gut. In ein paar Stunden komme ich wieder und sehe nach, wie es ihr geht. Ruh dich schön aus, Annie.« Er küßte mich auf die Wange, ging hinaus und zog leise die Schlafzimmertür hinter sich zu.
Kurz bevor er die Tür zumachte, konnte ich noch einmal sein Gesicht sehen. Er sah so glücklich, ja geradezu ekstatisch aus; seine Augen strahlten und leuchteten so hell wie die bläulichen Zünglein einer Gasflamme. War es für ihn eine solche Genugtuung, etwas für mich tun zu können? Welche Ironie des Schicksals: Das Unglück, das dem einen widerfuhr, gab dem anderen die Möglichkeit, sein Glück wiederzufinden.
Aber ich konnte es ihm nicht übelnehmen. Es war ja nicht sein Plan gewesen, mich hierher zu holen. Was sollte ich ihm denn vorwerfen? Daß er mir die bestmögliche medizinische Versorgung zukommen ließ? Daß er mir sein Haus und seine Dienstboten zur Verfügung stellte, damit ich mich erholen konnte? Daß er alles tat, was in seinen Kräften stand, um meinen Schmerz und meine Qual zu lindern?
Vielleicht sollte ich Mitleid mit ihm haben, dachte ich. Er war ein einsamer, gebrochener Mann, der ganz allein in einem riesigen Palast lebte, in dem er
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