Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
gerne einen warmherzigeren und freundlicheren Menschen um mich gehabt. Ich vermißte die Mutter, zu der ich mit all meinen Sorgen, mit all meinen kleinen Kümmernissen kommen konnte. Nie wieder würden das liebevolle Leuchten ihrer Augen und die Sanftheit ihrer Stimme mein Herz erwärmen! Vor allem aber fehlte mir ihre Weisheit, die sie, wie ich wußte, aus Jahren der Not und aus vielen schmerzvollen Erfahrungen schöpfte.
»Schwere Zeiten lassen dich härter werden, so wie schlechtes Wetter die Rinde an einem Baum härter werden läßt«, pflegte die Großmutter aus den Willies zu sagen, jene Großmutter, deren Namen ich trug. »Wenn du klug bist, dann ist das der Baum, an den du dich lehnen kannst.«
Es tat mir weh, wenn ich daran dachte, daß ich niemanden hatte, an den ich mich lehnen konnte. Drake ging ganz in der neuen, aufregenden Welt auf, die ihm das Geschäftsleben eröffnete. Luke war auf dem College und sicher sehr beschäftigt mit seinen neuen Aufgaben und Pflichten. Was Tony betraf, war ich mir noch nicht ganz sicher. Er war so gut zu mir, und doch, und doch – ein Schatten verdunkelte sein Bild. Warum war Mammi so gegen ihn eingenommen gewesen?
»Ich komme in ein paar Stunden zurück«, sagte Mrs. Broadfield. »Wenn Sie Durst bekommen – gleich hier auf dem Nachttisch steht ein Glas frisches Wasser. Können Sie es erreichen?«
»Ja.«
»Gut. Bis später.«
Sie knipste das Licht aus, zog die Vorhänge sorgfältig zu und ging aus dem Zimmer.
Nun war ich also allein. Ich richtete mich im Bett auf, um den Raum richtig betrachten zu können. Wie war es wohl für meine Mutter gewesen, als sie die erste Nacht hier verbrachte? Sie war hierhergekommen, um bei Menschen zu leben, die sie noch nie gesehen hatte – bei Fremden, mochten sie auch mit ihr verwandt sein. In gewisser Hinsicht waren wir beide als Waisen hierher gekommen: Sie war zur Waise geworden, weil ihr Vater die Familie verkauft hatte; und mich hatte der Tod zur Waise gemacht, der habgierige Tod, der mich meiner Eltern beraubt hatte.
Damals wußte sie fast genauso wenig über ihren familiären Hintergrund wie ich. Wie ein Forscher mußte sie Farthy durchstreift haben, um herauszufinden, wer sie wirklich war. Nur war sie nicht irgendwelchen Krankenschwestern und Dienstboten ausgeliefert gewesen und auf Bett und Rollstuhl beschränkt. Sie war wenigstens fähig gewesen, alles selbst zu erforschen.
Oh, ich konnte es nicht erwarten, wieder gesund zu werden, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Ich konnte es nicht erwarten, daß Luke kam und wir gemeinsam das Traumschloß unserer Kindheit erforschten.
Luke. Wie sehr er mir fehlte! Wie sehr ich seinen Trost brauchte! Wegen der Untersuchungen im Spital hatte ich seit Tagen nicht mehr von ihm gehört. Aber er würde sich bestimmt bald melden. Ich blickte hinüber zum Nachttisch.
Kein Telefon!
Da war kein Telefon! Wie sollte er mich anrufen? Mir wurde plötzlich ganz heiß, und Panik stieg in mir hoch.
»Mrs. Broadfield!« rief ich. »Mrs. Broadfield!« War sie weggegangen, weil sie dachte, ich sei eingeschlafen? »Mrs. Broadfield!«
Ich hörte hastige Schritte, und einen Augenblick später kam sie ins Zimmer. »Was ist los?« Sie machte an der Tür das Licht an.
»Mrs. Broadfield, hier im Zimmer ist kein Telefon!«
»Mein Gott, haben Sie deswegen so geschrien?« Sie preßte ihre Hand gegen die Brust.
»Bitte sagen Sie Tony, er möchte heraufkommen.«
»Hören Sie, Miß, ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten ein Schläfchen halten, und Sie meinten…«
»Ich werde nicht schlafen, bevor ich nicht mit Tony gesprochen habe«, beharrte ich und verschränkte die Arme unter der Brust wie Tante Fanny, wenn sie unbedingt wollte, daß etwas nach ihrem Kopf ging. Ich konnte genauso dickköpfig sein wie sie!
»Wenn Sie sich so aufführen, werden Sie den Genesungsprozeß um Monate hinauszögern. Vielleicht werden Sie nie wieder richtig gesund.«
»Das ist mir gleich. Ich möchte Tony sprechen.«
»Gut, meinetwegen.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer. Kurz darauf hörte ich Tony kommen. Ich richtete mich im Bett auf.
»Was ist los, Annie?« fragte er. Seine Augen waren ganz unruhig vor Sorge.
»Tony, hier im Zimmer ist kein Telefon. Ich kann niemanden anrufen, und niemand kann mich erreichen. Im Krankenhaus war das ja am Anfang gut und schön. Ich konnte es verstehen, weil es mir so schlecht ging. Aber hier werde ich eine ganze Weile wohnen, und da muß ich unbedingt mein
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