Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
das Schüsselchen mit dem Nachtisch auf das Tablett.
»Es tut mir leid, daß ich Ihren Schokoladekuchen nicht essen darf, Rye. Er sah sehr verlockend aus.«
»O ja, sie hat ihn gleich wieder runtergebracht.« Er blickte sich um und beugte sich dann zu mir herab. »Ich find sicher einen Weg, wie ich noch ein Stück hier rauf schmuggeln kann. Sie werden’s sehen.«
»Danke Rye. Und kommen Sie mich doch bitte bald wieder besuchen.«
»Aber klar.«
»Na, was ist denn hier los?« fragte Tony, der plötzlich in der Tür erschien. »Der Koch schaut nach, wie gut sein Essen ankommt?«
»Jemand mußte die Götterspeise hochbringen, und da dachte ich, das ist doch’n guter Anlaß, um meine Aufwartung zu machen, Mr. Tatterton.« Er wandte sich um und zwinkerte mir zu. »Jetzt muß ich aber wirklich wieder in die Küche.«
»Vielen Dank, Rye«, rief ich ihm noch nach, als er aus dem Zimmer eilte. Tony schaute ihm nach und wandte sich dann mir zu.
»Warum hat denn nicht Millie die Götterspeise hochgebracht?« überlegte er laut.
»Ich habe Millie gebeten, Rye heraufzuschicken.«
»Ach, ja?« Seine blauen Augen verengten sich.
»Ich hoffe, das war in Ordnung«, sagte ich hastig. Tony wirkte aufgebracht.
»Ich wollte ihm ohnehin sagen, er solle nach dem Abendessen bei dir vorbeischauen. Es ist in Ordnung«, meinte er, und seine Augen wurden wieder sanfter. »Er ist immer noch einer der besten Köche an der ganzen Ostküste. Ich würde seinen Yorkshire Pudding gegen keinen anderen tauschen.«
»Er ist genauso, wie meine Mutter ihn beschrieben hat. Er muß doch schon über achtzig sein, nicht wahr?«
»Wer weiß? Er weiß gar nicht genau, wann sein Geburtstag ist, und was sein Alter betrifft, lügt er wie gedruckt. Und wie geht es dir? Fühlst du dich ein bißchen gestärkt?«
»Ich bin müde von der Therapie und ein bißchen entmutigt. Ich würde so gerne überall im Haus und im Park herumlaufen!«
»Na, vielleicht erlaubt Mrs. Broadfield ja, daß du morgen am späten Vormittag einen kurzen Ausflug auf den Korridor machst. Der Arzt kommt übermorgen.«
»Hat Luke angerufen?« fragte ich hoffnungsvoll.
»Noch nicht.«
»Das verstehe ich nicht.« Mein Herz sank. War Drakes Voraussage bereits eingetreten?
»Er will dir sicher nur die Möglichkeit geben, dich hier einzuleben, vermute ich.«
Er zog einen Stuhl ans Bett. Als er sich setzte, schlug er die Beine übereinander und strich mit den Fingern sehr sorgsam über die scharfe Bügelfalte seines grauen Hosenbeins.
»Das sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Wir waren uns sehr nahe«, erklärte ich. »Wußtest du, daß wir genau am selben Tag geboren wurden?«
»Wirklich? Wie außergewöhnlich!«
Der gemeinsame Geburtstag von Luke und mir war ein so wichtiger Meilenstein in meinem Leben, und daher konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß Tony nichts davon wußte. Wie vollständig ihn mein Vater und meine Mutter aus ihrem Leben ausgeschlossen hatten, dachte ich. Ob er überhaupt wußte, daß Luke und ich Halbbruder und Halbschwester waren?
»Ja. Und seither war unsere Beziehung ganz ähnlich wie die zwischen meiner Mutter und ihrem Bruder Tom, der bei dem Zirkusunfall so tragisch ums Leben kam.«
»O ja.« Tony schaute mich mit einer solchen Intensität an – ich konnte beinahe spüren, wie sich seine Augen in meine Seele bohrten. »Deine Mutter hat sehr darunter gelitten, aber sie war eine ungeheuer starke Frau, so wie du es bestimmt auch sein wirst, da bin ich sicher. ›Was mich nicht umbringt, macht mich stark‹, pflegte mein Vater immer zu mir zu sagen. Er hatte diese Redewendung von einem deutschen Philosophen übernommen, ich weiß nicht mehr, von welchem. ›Anthony‹ sagte er immer«, erinnerte sich Tony und nahm die steife Haltung seines Vaters an, »›du mußt aus jeder Niederlage im Leben etwas lernen, oder das Leben wird dich besiegen.‹« Er entspannte sich wieder und lächelte. »Ich war erst fünf oder sechs Jahre alt, als er mir diesen Rat gab, aber seltsamerweise habe ich ihn nie vergessen.«
»Die Tattertons sind eine faszinierende Familie, Tony.«
»Oh, ich bin sicher, daß manche meiner Verwandten ziemlich langweilige Menschen sind. Mit der Hälfte meiner Cousins habe ich noch nie ein Wort gewechselt. Trübselige Langweiler. Und Jillians Familie war auch nicht viel besser. Ihre beiden Schwestern und ihr Bruder sind schon vor einiger Zeit von uns gegangen. Ich habe es nur erfahren, weil ich zufällig die Nachrufe gelesen habe. Nach
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