Casteel-Saga 04 - Nacht über Eden
Broadfield hereinkommen hörte, öffnete ich die Augen nur einen Spalt. Sie überprüfte meinen Blutdruck und meinen Puls, zog meine Decke zurecht und knipste dann das Licht aus.
Die Dunkelheit umgab mich wie ein schwerer Vorhang. Es war meine zweite Nacht in Farthy, aber im Gegensatz zu der ersten hatte ich nun etwas, worauf ich lauschen konnte: Rye Whiskeys Geister. Vielleicht träumte ich ja nur, weil er es so dramatisch geschildert hatte, aber manchmal glaubte ich das sanfte Klimpern eines Klaviers zu hören, das einen Walzer von Chopin spielte. War da wirklich ein Geist, der durch das Haus wanderte, immer und ewig auf der Suche?
Vielleicht suchte er nach mir. Und vielleicht hatte er mich schon seit langer Zeit erwartet…
13. K APITEL
D ER GEHEIMNISVOLLE M ANN
Mrs. Broadfield zog die Vorhänge so abrupt auf, daß das Morgenlicht wie eine Bombe über mir explodierte. Sie sah aus, als sei sie schon seit Stunden auf den Beinen.
»Sie sollten früh aufstehen, Annie«, sagte sie, ohne mich richtig anzusehen. Sie redete, während sie im Zimmer herumging und alles vorbereitete – sie klappte meinen Rollstuhl auf, holte einen Morgenmantel aus dem Schrank und suchte meine Pantoffeln.
»Sie brauchen jetzt viel länger für alles, und Sie werden die zusätzliche Zeit nötig haben«, fuhr sie fort. »Sie werden schon bald allein aus dem Bett aufstehen und sich in den Rollstuhl setzen können, aber Sie müssen es langsam und schrittweise angehen. Verstanden?« fragte sie und hielt endlich inne, um mich anzuschauen.
Ich richtete mich auf, lehnte mich gegen mein Kissen und nickte.
»Also gut, dann werden wir jetzt aufstehen, uns waschen und ein frisches Nachthemd anziehen.«
Ich war immer noch etwas benommen, weil ich sehr tief geschlafen hatte. Deshalb nickte ich nur. Schweigend, als würden wir eine Pantomime aufführen, half sie mir aus dem Bett und in den Stuhl. Dann rollte sie mich ins Badezimmer und zog mir das Nachthemd aus. Ich wusch mir das Gesicht, und sie brachte ein frisches Nachthemd. Danach schob sie mich zurück in mein Zimmer.
»Ich werde Ihnen jetzt Ihr Frühstück holen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.
»Warum bringt es nicht Millie herauf?« Ich wollte unbedingt erfahren, ob sie meinen Brief Tony gegeben hatte, damit er ihn abschicken konnte. Mrs. Broadfield blieb in der Tür stehen und wandte sich nach mir um. »Sie wissen es wohl noch nicht, aber Millie ist gestern abend entlassen worden«, sagte sie und verließ das Zimmer, ehe ich reagieren konnte.
Entlassen? Aber warum? Ich hatte sie gern gemocht und ihre Gesellschaft als sehr angenehm empfunden. Sie war so nett und freundlich gewesen. Was konnte sie denn nur getan haben, daß ihr so schnell gekündigt wurde? Als Tony zu mir ins Zimmer kam, wollte ich sofort Bescheid wissen.
»Tony, Mrs. Broadfield hat mir gerade erzählt, du hättest Millie entlassen. Warum nur?«
Er schüttelte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe.
»Inkompetent. Vom ersten Tag an hat sie alles falsch gemacht. Ich hatte gehofft, wie würde sich bessern, aber es schien nur immer schlimmer zu werden. Jillian hätte sie nicht einen Tag lang hier geduldet. Du hättest wirklich erleben sollen, was für wunderbares Personal wir früher hier hatten, so professionell, so – «
»Aber Tony, sie war so nett«, unterbrach ich ihn entrüstet.
»Oh, sie war sicherlich sehr nett, aber das genügt nicht. Ich habe herausgefunden, daß ihre Empfehlungsschreiben nicht korrekt waren. Sie konnte längere Zeit keine Stelle finden und arbeitete als Kellnerin, nicht als Dienstmädchen. Aber beunruhige dich nicht, jemand von meinen Leuten sucht schon nach einem neuen Mädchen.«
Mrs. Broadfield kam mit meinem Tablett und stellte es ab.
»Nun, ich muß mich auf den Weg machen«, sagte Tony. »Ich lasse dich in Ruhe frühstücken.«
»Tony, warte noch! Ich habe ihr gestern abend einen Brief für Luke mitgegeben, den sie dir aushändigen sollte, damit du ihn aufgeben kannst.«
Er lächelte rätselhaft.
»Einen Brief? Sie hat mir keinen Brief gegeben.«
»Aber Tony – «
»Ich habe sie gegen halb acht zu mir gebeten und ihr zwei Wochen als Abfindung ausgezahlt, aber sie hat keinen Brief erwähnt.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Warum nicht? Es ist genau, wie ich gesagt habe: Sie ist inkompetent. Sie hatte ihn vermutlich in ihre Schürzentasche gesteckt und dann vergessen. Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was mit den jungen Leuten von heute los ist;
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