Castello Christo
eine schmerzliche Sehnsuchtihn durchströmte, die mit jedem Meter, den er zurücklegte, größer wurde. Seine Schritte wurden schneller. Er musste sich beherrschen, nicht einfach loszulaufen.
Endlich stand er davor und vergrub die Hände tief in den Hosentaschen. In der ersten Zeit hatte er sich einige Male dabei ertappt, wie er sich mit gefalteten Händen dem Schmerz hingab. Als ob er beten würde. Beten! Es gab niemanden mehr, zu dem er beten konnte.
In der Mitte der rötlichbraunen Marmorplatte, die das Grab bedeckte, stand in einer Vase ein Strauß weißer Nelken, in denen eine einzelne dunkelrote Rose leuchtete wie der Blutfleck auf einem Hochzeitskleid. Ihre Mutter stellte jede Woche frische Blumen auf das Grab. Immer die gleiche Zusammenstellung. Francesca hatte den Kontrast dieser Kombination geliebt. Das wusste er, obwohl er ihr selten Blumen geschenkt hatte. Viel zu selten. Eigentlich nie. Er hatte Blumen nicht für wichtig gehalten. Warum fielen einem die eigenen Fehler erst auf, wenn man sie nicht mehr ändern konnte? Langsam ging er in die Hocke und strich mit der Hand über die kalte Marmorplatte.
»Francesca«, flüsterte er, »Liebes, schau dir an, was aus mir geworden ist, seit du gegangen bist. Sie haben mich für unfähig erklärt, für psychisch krank. Was soll jetzt werden?« Er wartete einige Sekunden, so als wollte er ihr die Möglichkeit geben, zu antworten, bevor er weitersprach. »Alicia hat sich wieder bei mir gemeldet. Wegen dieser Mordserie, an der ich dran bin. Dran war, muss ich jetzt wohl besser sagen. Zuerst war es mir nicht recht, dass sie plötzlich wieder vor mir stand, aber dann . . .« Tief atmete er durch. »Ich weiß nicht, was es ist, Francesca. Es ... ich freue mich, sie wiederzusehen. Ich meine, sie war unsere Freundin. Da ist es doch normal, dass ich . . .« Wieder atmete er tief durch. »Ich denke, ich brauche jemanden, derauch eine enge Bindung zu dir hatte. Sie ist . . .« Mit einem Ruck stand er auf und wischte sich mit beiden Handflächen über das Gesicht. »Ich glaube, du wärst damit einverstanden, dass deine Freundin mir hilft. Bei diesem fürchterlichen Fall und vor allem dabei, nicht ganz zu verzweifeln.«
Er hörte Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, blickte er in das faltige Gesicht einer alten Frau. Aus ihren Augen sprach tiefes Mitgefühl. Wortlos legte sie ihm die Hand auf den Arm, dann ging sie, den Oberkörper ein wenig nach vorne gebeugt, langsam in die Richtung weiter, aus der Varotto gekommen war. Er sah ihr nach und wandte sich dann wieder dem Grab zu.
»Ich werde diesen Fall lösen, Francesca. Auch ohne Kollegen. Ich habe jetzt nur noch diesen Deutschen. Und Alicia.«
Ein letztes Mal strich er ganz leicht mit den Fingerspitzen über den Marmor.
»Ich werde dich immer lieben, Francesca«, flüsterte er.
Ein paar Minuten später lenkte er seinen Wagen in Richtung Via Michele Pironti.
Rom. Redaktionsgebäude des ›Il Cortanero‹
34
Matthias betrachtete das Display seines Handys noch einige Sekunden, nachdem er aufgelegt hatte.
»Was ist?«, fragte Alicia schon zum zweiten Mal. »Was hat er gesagt?«
Endlich riss Matthias den Blick vom Telefon los und sah sie an. In seinen Augen war Verwirrung zu sehen.
»Er sagt, er sei vom Dienst suspendiert worden. Ich sollSie nach dem heutigen Leitartikel fragen, dann wüsste ich, warum.«
Alicia schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »O Gott, der Artikel meines Chefs! Ich habe ihn noch nicht gelesen, aber ich habe gestern mitbekommen, dass von ganz oben die Order kam, den Ton deutlich zu verschärfen. Moment!«
Mit schnellen Schritten verließ sie das Archiv
,
um nur zwei Minuten später mit einer aktuellen Ausgabe des ›Cortanero‹ zurückzukommen. Ihr Gesicht verdüsterte sich, während sie die Zeilen überflog.
»So eine Gemeinheit!«, rief sie schließlich, hielt Matthias die Zeitung hin und ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf ihren Stuhl fallen.
Matthias las den Artikel, der etwa ein Viertel der Seite ausmachte, und ließ den ›Cortanero‹ dann sinken.
»Kommt es öfter vor, dass Ihre Zeitung sich auf die reißerische Ebene eines Revolverblatts herablässt?«
Energisch schüttelte Alicia den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Wir legen großen Wert auf eine schonungslose Berichterstattung, gehen dabei aber eigentlich stets fair mit der Polizei oder dem Vatikan um. Das hier«, sie wies angewidert mit dem Zeigefinger auf die Zeitung, »ist ganz und gar nicht unser
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