Caylebs Plan - 6
noch. Wenn Merlin doch nur genug Zeit gehabt hätte, die Daum Star und die anderen Kreuzer zu warnen! Wenn er hätte erzählen können, ein - angemessen anonymer - Informant hätte berichtet, Mitglieder von Hektors Familie würden möglicherweise aus dem Fürstentum zu flüchten versuchen, hätte der Offizier, der die Untersuchung geleitet hatte, die Passagierliste zweifellos etwas gründlicher begutachtet. Stattdessen hatte er sich auf die Fracht des Schiffes konzentriert, und diese Fracht war gänzlich sauber erschienen.
Trotzdem musste Merlin zugeben, dass Cayleb ihm zu Recht in der Nacht eine Pause einzulegen befohlen hatte. Zwei Stunden war wahrscheinlich mehr, als Merlin wirklich brauchte. Aber er bemerkte schon jetzt einen deutlichen Unterschied, was seine geistige Leistungsfähigkeit betraf.
Merlins Mundwinkel zuckten, als er sich fragte, ob Cayleb wohl in der Lage wäre zu beurteilen, ob er ›wach‹ wäre oder ›schliefe‹, sollte der Kaiser sich vergewissern wollen, dass sich seine Leibwache tatsächlich die vorgeschriebene Auszeit nähme.
Er braucht das nicht zu überprüfen, das ist das eigentlich Wichtige. Ich habe ihm gesagt, ich würde es tun, also glaubt er mir das auch. Dieser verschlagene Bursche! Es fällt einem viel einfacher, jemanden zu hintergehen, der einen nicht für ehrbar und vertrauenswürdig hält! Ich muss zugeben, dass Cayleb ebenso viele Führungsqualitäten besitzt wie jeder andere, unter dem ich gedient habe, Commodore Pei eingeschlossen.
Es ist schon sonderbar, wie sehr sich meine ursprüngliche Einstellung zu Charis und den Charisianern im Allgemeinen geändert hat, ging es ihm durch den Kopf. Von Anfang an hatte er sowohl Cayleb als auch dessen Vater größten Respekt entgegengebracht. Damals hatte er König Haarahld in einem ihrer ersten Gespräch gesagt, seine Treue gelte der Zukunft von Safehold, nicht einem speziellen Monarchen oder auch einem bestimmten Reich. Das allerdings stimmte mittlerweile nicht mehr. Inzwischen war Merlin irgendwie selbst zu einem Charisianer geworden. Er war sich nicht ganz sicher, ob das wirklich gut war. Seine Verantwortung galt der gesamten Menschheit, nicht nur dem Haus Ahrmahk, so sympathisch, liebenswürdig und charismatisch der derzeitige Regent aus diesem Hause auch sein mochte. Merlin konnte es sich schlicht nicht leisten, sich in einer Art und Weise mit den Interessen von Charis zu identifizieren, die ihn vielleicht von seiner deutlich weiter reichenden Pflicht ablenkten.
Moment, so stimmt das nicht!, wehrte sich eine Stimme in seinem Hinterkopf, während ein Großteil seines Verstandes sich auf die Zusammenfassung aller Aufzeichnungen dieses Tages konzentrierte, die seine SNARCs gesammelt und Owl ihm übertragen hatten. Zumindest derzeit sind die Interessen von Charis identisch mit denen der Menschheit im Ganzen. Wer außer Cayleb, Maikel und Sharleyan gehört denn schon zu den Aufrechten! Auch ganz kaltblütig und pragmatisch betrachtet kann ich es mir nicht leisten, diese Helfer zu verlieren. Wenn das geschähe, würde ich vermutlich nie wieder vergleichbare Unterstützung finden.
Klar doch!, erwiderte eine andere Stimme in seinem Kopf sardonisch. Red du dir das bloß immer schön weiter selbst ein!
Ach, halt doch die Klappe!, fauchte die erste Stimme gereizt.
Merlin schnaubte auf. Diese kleinen inneren Dialoge hätten vermutlich jeden Psychologen ernstlich beunruhigt - so er bereit gewesen wäre, die Herausforderung anzunehmen, sich mit einem elektronischen Speichermuster von Erinnerungen und Emotionen zu befassen, das störrisch darauf beharrte, sich selbst als echten Menschen anzusehen. Es war ja nun nicht so, als ob ...
Abrupt brach der Gedanke ab, und Merlin setzte sich ruckartig in seinem Sessel auf.
»Owl!«, subvokalisierte er.
»Jawohl, Lieutenant Commander Alban?«
»Das letzte Segment wiederholen.«
»Jawohl, Lieutenant Commander«, erwiderte die KI gehorsam. Merlin fluchte innerlich. Ihm war, als durchbohre ein Dolch aus purem Eis sein nicht mehr existierendes Herz.
Verdammt! Verdammt noch mal! Ich habe Cayleb doch gesagt, ich hätte zu viel zu tun!
Ja, das hatte er. Cayleb hatte ihm prophezeit, es würde passieren, und das so unausweichlich wie das Kommen des Morgengrauens! Merlin musste einfach Prioritäten setzen, deswegen hatte er sich auch auf die Geschehnisse hier in Corisande konzentriert, auf alles, was sich unmittelbar auf Caylebs Feldzug auszuwirken vermochte. Die Ereignisse in Tellesberg dagegen
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