Cevdet und seine Soehne
hustete, um seine
Lungen zu prüfen, und horchte auf sein Herz. Dann sah er auf den
Nişantaşıplatz hinaus. »Zweiunddreißig Jahre!« Aus den Fenstern
hingen überall Fahnen heraus. »Die feiern das Jugendfest, und ich mache hier
meinen Altengang!« Er war nun um das Haus herum und kam unter seinem
Arbeitszimmer vorbei, in das er sich nun gleich zurückziehen würde. Er spürte
einen kühlen Windhauch über seinen Rücken streichen und dachte: »So! Kontrollgang
beendet! Der Kontrolleur rückt in die Zentrale ab! Haha!« Plötzlich verspürte
er im Oberarm einen stechenden Schmerz. Er fasste sich an den Arm, als wollte
er seinen Bizeps prüfen. »Ich habe mich doch nirgends angestoßen?« Er ging von
hinten an Nigân heran und sah dabei auf ihren Nacken, der ihm irgendwie
lächerlich erschien. Ihm kam in den Sinn, ihr wieder den Streich zu spielen,
der sie früher immer so erbost hatte, und so schlich er sich bis zu ihr hin und
legte ihr die Hand auf die Schulter wie eine Pranke.
»Gott, hast du mich erschreckt! Wie
kannst du nur immer noch so kindisch sein!«
»Ich gehe jetzt hinauf«, erwiderte
Cevdet nur und konnte über seinen eigenen Scherz nicht lachen.
»Leg dich doch lieber hin!«
»Ich sage dir doch, ich arbeite
jetzt.«
Nigân wandte sich zu Osman um, der
immer noch schallend lachte. »Ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt!« Ohne
sich wieder zu Cevdet umzudrehen, rief sie dann: »Warum schläfst du nicht,
Cevdet? Ruh dich doch in Gottes Namen ein wenig aus und …«
Cevdet war aber schon durch die
Küchentür verschwunden. Mit heldenhafter Miene sah er den über das Spülwasser
gebeugten Koch an und dachte: »Keiner begreift, worum es mir bei diesen Erinnerungen
geht!« Beim Hinausgehen sagte er zu Nuri: »Punkt drei will ich meinen Tee. Lass
dir ja nicht einfallen, ihn erst später zu bringen!« Er hatte nämlich Nigân im
Verdacht, aus Gesundheitsgründen seine Teezeiten zu sabotieren.
Schwerfällig stieg er die Treppe
hinauf. Im Obergeschoss angelangt, dachte er: »Gottlob fehlt mir nichts!« Dann
ging er durch die Zwischentür und die Treppe in den zweiten Stock hinauf. Vor
der tickenden Wanduhr hielt er schnaufend inne. »Ich muss mich doch irgendwo
angestoßen haben!« Er betrat sein Arbeitszimmer und setzte sich an den
Schreibtisch. Zwischen Fotos, Urkunden, Heften und sonstigen Papieren prangte
auf einem Umschlag: »Ein halbes Jahrhundert Kaufmannsleben«. Weiter war er
innerhalb von zwei Monaten nicht gekommen. Er hatte die Zeit damit verbracht,
Material zu sammeln, erste Entwürfe zu verfassen und sie wieder zu zerreißen.
Da ging die Tür auf, und Refık
kam herein. »Ach, du bist hier! Legst du dich nicht hin?«
»Das habe ich doch gesagt! Was
suchst du denn?«
»Meine Zigaretten. Die habe ich hier
vor dem Essen …«
»Gehst du aus? Schau, hier sind
deine Zigaretten.«
»Ich will nur kurz mal weg. In den
Club vielleicht …«
»Wohin? Na ja. Aber das eine möchte
ich dir noch sagen, und zwar, dass du mir in letzter Zeit gar nicht recht
gefällst. Ich glaube, du verzettelst dich. Um die Firma scheinst du dich immer
weniger zu kümmern. Vergiss nicht, dass Osman die Firma nicht ganz allein
leiten kann, wenn mir mal etwas zustößt …«
»Aber was redest du da!«
»Na ja, schon gut! Ich weiß, dass du
nervös bist, weil deine Frau bald entbindet. Na geh schon jetzt! Aber rauch
nicht zuviel! Und mach die Tür leise zu!«
Danach blätterte Cevdet in einem
Heft, das ihm für den ersten Teil seiner Erinnerungen wichtig erschien.
Schließlich wechselte er zu den Zeitungsartikeln über, die er in den letzten
Jahren ausgeschnitten hatte und die ihm ebenfalls von Nutzen sein sollten. Von
einem der Artikel sah er plötzlich auf. »Wo geht er gleich wieder hin?
Spazieren? In den Club? Dort wird er gemütlich rauchen!« Ihm fiel wieder ein,
was er nach dem Essen gedacht hatte: »Wozu soll ich noch leben, wenn ich nicht
einmal rauchen darf?« Er bereute nun, aus Refıks Päckchen nicht wenigstens
eine Zigarette stibitzt zu haben. »Wie gut mir die jetzt täte!« Mechanisch
griff er zu der Schachtel mit den alten Fotos. Er nahm sie einzeln heraus und
legte sie nebeneinander auf den Schreibtisch. Er würde also schreiben, was er
mit diesen Fotos für Erinnerungen verband, aber bei dem Gedanken, dass jemand
das lesen sollte, würde er doch wieder alles zerreißen. »Hier bin ich mit Nigân
in Berlin. Das war ein sehr interessanter Aufenthalt. In Deutschland habe ich
eine der riesigen
Weitere Kostenlose Bücher