Cevdet und seine Soehne
Kruppfabriken besichtigt. Solche muss es auch bei uns einmal
geben. Tja … Was mir das Foto sonst noch sagt? Dass Fotos sehr nützlich sind.
Man darf nur nicht vergessen, sie mit einem Datum zu versehen. Ach, was ist nur
aus mir geworden? Dass ich mich mit solchem Unsinn beschäftige und das auch
noch als Arbeit ansehe!« Betrübt stand er auf. »Was ist bloß aus mir geworden?
Nein, ich muss in die Firma gehen, muss die Leitung wieder selber übernehmen!
Osman versteht nichts davon, er ist ein Tölpel! Und Refık hat seinen Kopf
ganz woanders! Wer soll die Firma dann leiten?« Er ging zum Fenster und sah auf
den Platz hinaus. »Alle le ben und sind in Bewegung, nur ich sitze hier herum.
Ich sollte wenigstens spazierengehen!« Voller Schrecken dachte er an seinen
Bruder zurück. »Der ist auf dem Totenbett völlig durchgedreht, hat Lieder gesungen,
Märsche. Seltsame Sachen, die Marseillaise zum Beispiel. Na ja, seine Republik
ist ja jetzt gegründet worden, und die Marseillaise habe ich auch gehört, aber
nicht, wie er es sich vorgestellt hatte, von Revolutionären und erst recht
nicht von der Regierungspartei, sondern von den französischen Besatzern! Was
waren das für Zeiten! Diese Schiffsladung Zucker … Als die Nachricht eintraf,
dass das Schiff durch die Dardanellen war, begannen sie mir schon zuzusetzen.
Aber mit der Zweckentfremdung von Militärwaggons hatte ich Gott sei Dank nie
etwas zu tun! Damit ist Fuat reich geworden. Durch seine Kontakte zu İsmail Hakkı Paşa und zur Regierung!« Cevdet
wurde ganz munter beim Gedanken an jene schönen, bewegten, erfolgreichen
Zeiten. Er ging im Zimmer auf und ab. »Das war noch ein Leben! Etwas auf die
Beine stellen und damit Geld verdienen … Und jetzt? Sitze ich hier vor dieser
Zettelwirtschaft! Ich bin schon wie mein Bruder! Aber nein, die Marseillaise
möchte ich nicht hören! Ich bin stets Realist gewesen. Realist zu sein, und
zwar die ganze Zeit über, ist gar nicht so einfach, aber ich habe es geschafft!
Wo habe ich mir nur den Arm angestoßen? Oder ist das etwa …« Erschrocken
setzte er sich. »Genau hier tut es weh. Als würde mir ein Skorpion vom Arm her
auf das Herz zukriechen … Ach was, wird schon nichts sein!« Um sich
abzulenken, wandte er sich wieder den Fotos zu. Eines davon war auf Refıks
Hochzeit aufgenommen worden. »Der Junge wollte eine möglichst schlichte Feier.
Wie sie wohl nach meinem Tod mit der Firma zurechtkommen? Wir müssten eine
eigene Fabrik aufbauen. Sie könnten das zum Beispiel schaffen, indem sie sich
mit Siemens zusammentun … Wenn wir es nicht tun, tun es andere! Also, dieser
Schmerz ist schon komisch. Und das Bild da? Das ist von Osmans Hochzeit, wir
sind alle unten im Erdgeschoss. Nermin! Die habe ich noch nie gemocht. Mir
kommt es so vor, als habe sie uns immer nur ausgenutzt und gar nicht geliebt.
Uns alle, mich, Nigân, Osman, Refık, Ayşe … die Enkel …« Er studierte
das Foto eingehend. »Wie anders es damals da unten noch ausgesehen hat! Alles
ändert sich so schnell, und wir merken es nicht einmal. Die ganze Einrichtung … Das
Perlmuttzimmer … Jetzt möchte Nigân neue Schlafzimmermöbel! Ich habe dreißig
Jahre gebraucht, um mich an die alten zu gewöhnen, und jetzt soll ich mich noch
mal umstellen! Ach, nehmen wir ein anderes Foto!« Er erwischte eine Aufnahme,
auf der im Vordergrund Arbeiter, Träger und Verkäufer aneinandergelehnt auf dem
Boden sitzend posierten. Dahinter standen Cevdet, Osman, der Buchhalter
Sadık und der Händler Anavi mit seiner Tochter. Gerührt erinnerte Cevdet
sich zurück. »Das war bei der Einweihung von dem neuen Laden und dem Lager in
der Voyvodastraße! Und unser neuer Nachbar dort war mit seiner Tochter
gekommen. Ich muss sie ganz schön angestaunt haben damals!« Er wollte zu einem
anderen Foto greifen, aber plötzlich versagte ihm sein Arm den Dienst. »Was ist
das jetzt?« Er konnte sich erinnern, dass er im Lager einmal den Trägern
geholfen und daraufhin am Abend einen schmerzenden Arm gehabt hatte. »Das muss
das Herz sein!« dachte er. »Wie schon einmal! Ich muss meine Medizin nehmen!«
Er dachte an seine erste Herzattacke zurück. »Ich muss mich einfach hinlegen.
Grundsätzlich nach dem Mittagessen.« Da merkte er, dass er keine Luft mehr
bekam. Als er klein war, hatten sie ihn mal in einem kleinen Zimmer
eingesperrt. »Ein Zimmer? Nein, es war ganz anders. Eine Bettdecke! Er war
unter einer Bettdecke, und sein Bruder Nusret hatte sich mit seinem ganzen
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