Cevdet und seine Soehne
Trambahn hat eine Frau
mit dem Schaffner gestritten. Wie wird es da erst heute nachmittag zugehen!«
»Wie spät ist es denn?«
»Zwanzig
nach zehn.«
»Da bist du aber schnell wieder
heim!«
»Nicht wahr? Ich bin zuerst in mein
Büro und dann in einer plötzlichen Eingebung gleich zu Osman hinüber und habe gesagt:
Ich fühle mich nicht besonders, ich fahre wieder nach Hause! Ein bisschen
überrascht war er natürlich schon!« Er lachte. »Du hättest sein Gesicht sehen
sollen! Er hat mich nicht einmal gefragt, was genau mit mir los ist!«
»Es ist doch nichts Besonderes los,
oder?«
»Nein, sage ich dir doch …
Vielleicht bin ich nur ein bisschen übergeschnappt!« Er beugte sich zu Perihan
vor und küsste sie auf die Wange.
»Na ja, ein wenig seltsam bist du
schon in letzter Zeit!« sagte Perihan.
Refık dachte: »Aha, sie freut
sich also überhaupt nicht! Sie wollte nur für sich dasitzen und nachdenken oder
irgend etwas erledigen.«
»Hattest du denn etwas vor?« fragte er.
»Nein, was soll ich vorhaben?
Sowieso schläft die Kleine!«
Sie sahen zu ihrer Tochter hin, die
allmählich wach wurde. Sie war erst fünf Wochen alt, aber schon sehr
entwickelt. Refık hatte Angst, sie würde furchtbar groß werden. »Wir sind
ja beide schon so hochgewachsen«, dachte er besorgt. Das Mädchen war zehn Tage
nach Cevdets Tod auf die Welt gekommen. Kräftig, wie sie war, hatten sie sie
noch dazu Melek genannt – »Engel« –, ein Name, den Refık schon lange im
Sinn gehabt hatte. Das Baby hatte sich mittlerweile freigestrampelt, und
Refık sah gerötete Stellen auf seinen nackten Beinchen.
»Warum hast du denn das Moskitonetz
nicht vorgezogen?«
»Sie sollte ein bisschen Luft
bekommen.«
Sie schwiegen.
Refık setzte sich auf den
Bettrand. »Ist das eine Hitze! Die ganze Woche geht das schon so. Wenn das
den ganzen Juli so anhält …«
»Wären wir doch nach Heybeliada gegangen!« sagte
Perihan.
»Wie hätten wir das sollen? Du mit dem Kind im Bauch … Und dann der Tod meines Vaters!«
»Stimmt schon!« räumte Perihan ein
und senkte den Kopf. »Ich habe das nur so dahingesagt.«
»Es wäre schon nicht schlecht, wenn
ihr jetzt auf Heybeliada wärt, aber es geht nun mal nicht! Und weder meine
Mutter noch Osman wollten das.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Wieder Schweigen.
Dann fragte Refık besorgt: »Und
du hattest wirklich nichts vor?«
»Aber nein! Was soll eigentlich diese Frage?«
»Wieso?«
»Was soll ich denn vorhaben? Wie
meinst du das?«
»Ach, ich meine gar nichts!«
Refık hob die Zeitung auf, die Perihan zu Boden gefallen war, und
blätterte darin herum. Er las aufs Geratewohl ein paar Schlagzeilen:
»Behördliches Vorgehen gegen Typhusepidemie. Unstimmigkeiten zwischen Russland
und Japan ausgeräumt. Französischer Regierungskommissar besucht Hatay …«
Refık erinnerte sich, das alles schon auf dem Weg ins Büro gelesen zu
haben. Er sah zu Perihan auf, die reglos auf ihrem Stuhl saß.
»Wenn du willst, können wir am
Sonntag nach Heybeliada fahren!«
»Ach nein! Drei Stunden Hinfahrt,
drei Stunden Rückfahrt … Dazu noch die ganze Hektik. Und wer soll auf die
Kleine aufpassen?«
»Nermin. Oder Emine. An Leuten fehlt
es im Haus nun wahrlich nicht!«
»Nein, nein, ich meinte das gar
nicht so ernst vorhin. Sowieso habe ich bei dieser Hitze zu gar nichts Lust.
Mir fällt ja schon das Reden schwer.«
»Mir geht’s auch so! Soll ich dir
was aus dem Eisschrank holen? Nuri kann uns Limonade machen.«
»Nuri ist nicht da. Er muss beim
Einkaufen sein oder im Kaffeehaus. Aber ich will auch gar nichts.«
»Weißt du, es hat keiner gemerkt,
dass ich schon wieder da bin!« sagte Refık fröhlich. »Damit die
Gartenglocke nicht losläutet, bin ich übr die Mauer gesprungen. Und die
Küchentür hinten war auf. Ein Einbrecher hätte leichtes Spiel hier!«
Perihan gab keine Antwort. Sie stand
von ihrem Stuhl auf und setzte sich auf den Hocker vor der Kommode. Dazu musste
sie sich am Bett vorbeizwängen, denn um das Kinderbettchen aufzustellen, hatten
sie die Möbel etwas verrücken müssen, so dass das ohnehin nicht sehr große
Zimmer gänzlich vollstand. Refık sah Perihan an, in der Erwartung, dass
sie etwas sagen würde. Mit seiner Fröhlichkeit war es nicht mehr weit her. »Ich
war wohl zu sehr aufgedreht, einfach lächerlich!« dachte er.
»Du hast vorhin gesagt, dass du mich
in letzter Zeit seltsam findest.«
»Ich weiß auch nicht. Ich meine es
vielleicht gar nicht so. Ist mir nur so
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