Cevdet und seine Soehne
mir ständig vorsage. So habe ich mich daran gewöhnt. Was soll ich sonst
sagen?«
»Na, denk ein bisschen nach … Was
ist denn geschehen?«
»Ich kann nicht mehr so sein wie
früher. Nicht mehr so leben wie früher. Aber das trifft es nicht.« Er rang nach
einem passenden Ausdruck. »Ich will, dass sich in meinem Leben etwas tut. Ich
kann nicht mehr sein wie früher!«
»Hm«, machte Muhittin und zeigte
damit an, dass er zwar mitdachte, aber doch nicht recht begriff.
»Perihan sagt, dass ich aus dem Gleichgewicht
bin.«
»Und stimmt das?«
»Ein wenig schon. Wenn Gleichgewicht
bedeutet, dass man sich dem Lauf des Lebens einfach überlassenund mit
Leichtigkeit glücklich sein kann, dann bin ich tatsächlich aus dem
Gleichgewicht geraten.«
»Schlimm, schlimm«, sagte Muhittin.
Dann dachte er ein wenig nach. »Dabei warst du früher immer so stolz auf deine
Ausgeglichenheit. Die hat dich gesund und zufrieden, aber offen gesagt auch ein
wenig schlafmützig gemacht. Vielleicht ist es gar nicht das Schlechteste, wenn
du mal ein bisschen aufgerüttelt wirst.«
»Aber was soll ich bloß anfangen mit
mir?«
»Den hat es ja schlimm erwischt«,
dachte Muhittin. »Aber ich begreife immer noch nicht, was genau mit ihm los
ist.« Um Muhittins Mundwinkel begann es verärgert zu zucken.
»Ich verstehe dich einfach nicht.
Jetzt erzähl doch mal richtig!«
»Was ist denn noch zu sagen?«
Verschämt sagte Refık dann: »Ich habe auch keine Lust mehr zu arbeiten.
Ich glaube, ich gehe nicht mehr in die Firma.«
»Was hast du dann vor?«
»Weiß ich auch nicht. Darüber wollte
ich ja mit dir sprechen.«
»Jetzt pass mal auf! Du bist verheiratet. Du hast ein
Kind. Du bist Ingenieur und hast eine Arbeit, die dich nicht allzusehr plagt.
Du hast ein gemütliches Heim, eine nette Frau, hast Freunde, Bekannte, einen
gemächlichen Alltag … Muss ausgerechnet ich dich an das alles erinnern? Du
weißt es doch selbst, oder?«
»Ja, ich weiß es! Ich weiß es nur
allzugut!« Ein bitteres Lächeln spielte um seinen Mund. »Daher kommt ja vielleicht
alles!«
Muhittin spürte den Unmut in sich
anwachsen. »Und du bist sicher, dass da nichts anderes ist? Deine Trübsal rührt
von dem her, was du alles besitzt? Oder ist dir irgend etwas davon abhanden
gekommen?«
»Nein, das hätte ich doch gesagt!«
»Hm. Vielleicht bist du einfach
durcheinander, weil dein Vater gestorben ist und du ein Kind bekommen hast.«
»Vielleicht.«
»Na gut, wenn alles nicht mehr so
ist wie früher, wie ist es dann? Was konntest du früher machen und jetzt auf
einmal nicht mehr?«
»Früher war ich eben noch
ausgeglichen. Perihan hat schon recht. Und du sagst ja auch ungefähr dasselbe.
Ich bin irgendwie aus dem Sattel geworfen worden. Zwar tue ich noch immer das
gleiche wie früher, aber ich habe zu allem um mich herum keine rechte Beziehung
mehr. Ich kann noch eine Weile so weitermachen wie bisher, aber mit dem Alltag
komme ich immer weniger zurecht.«
»Eieiei!« Muhittin fürchtete schon,
er würde sich zu spöttisch anhören. »Und in die Firma willst du jetzt auch
nicht mehr gehen …«
»Tja, siehst du!«
»Also bist du richtig unglücklich?«
»Ja, Junge, unglücklich, das bin ich
wohl, und das kommt mir selber komisch vor!«
Diesmal beeindruckte es Muhittin
nicht mehr, dass Refık »Junge« gesagt hatte. Er versuchte seinen Groll hinunterzuschlucken.
»Vielleicht würde dir eine Reise
guttun. Geld und Zeit hast du ja!«
»Nein, nein! Gedacht habe ich schon
daran, aber das würde auch nichts bringen.« Zögernd fügte er hinzu: »Ich überlege
mir allerdings, ob ich nicht zu Ömers Baustelle fahren soll …«
»Kann ja auch sein, dass euch dieses
Haus zu klein ist«, sagte Muhittin und unterdrückte dabei ein Lächeln. »Jetzt,
wo das Kind da ist. Ihr könntet ja umziehen, Perihan und du.«
»Und was soll das ändern? Willst du
noch Wein?«
»Ja, bestellen wir noch was. Fast
wollte ich sagen, vielleicht kommt dein Problem von der Hitze, aber jetzt haben
wir bald Oktober …«
»Du machst dich also lustig über
mich? Ich sage dir doch, dass ich unglücklich bin. Aus dem Gleichgewicht
geraten …«
»Jetzt hör mir mal zu!« Muhittin
spürte, dass die Wut, die sich in seinem Mund wie Blut, ja wie Gift angesammelt
hatte, nicht mehr hinunterzuschlucken war. »Du hast überhaupt kein Recht darauf,
unglücklich zu sein. Begreifst du mich: kein Recht! Mir fällt gerade ein, wie
ich vor zwei Jahren, auch an so einem heißen Septembertag, mal
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