Cevdet und seine Soehne
voll, schmiede Pläne und ziehe hin und wieder ein Buch heraus
und lese. Bei Voltaire, in Rot und Schwarz oder in den Bekenntnissen, in denen ich gerade heute wieder geblättert habe, finde ich einen ganz
bestimmten intellektuellen Geist, und dann frage ich mich, warum ich diesen
hierzulande nie antreffe, weder bei mir selbst noch bei irgendwelchen Bekannten
oder bei türkischen Schriftstellern. Ich bin in einem so hoffnungslos trägen,
widerlichen Zustand, aber ist nicht die ganze Türkei so? Alles und jeder
scheint immer zu schlafen … Es hat angefangen zu regnen.
Freitag, 17. Dezember
Ich bin auf der Suche nach meinem
alten Gleichgewicht. Muhittin hat behauptet, dieses Gleichgewicht habe mich
glücklich, aber träge gemacht. Ich arbeite viel im Büro.
Sonntag, 19. Dezember
Es ist drei Uhr nachts. Perihan und
ich sind vom Weinen unserer Tochter aufgewacht. Perihan versucht sie wieder in
den Schlaf zu wiegen, und ich bin hinuntergegangen. Ich konnte nicht mehr
schlafen und bin im Schlafanzug herumgewandert, bis mich so gefroren hat, dass
ich den Ofen angemacht habe. Auch den kleinen Ofen hier in der Bibliothek habe
ich angezündet. Währenddessen habe ich versucht nachzudenken, falls man das
überhaupt nachdenken nennen kann. Anstatt von Gedanken schwirren mir immer
Bilder durch den Kopf. Es regnet seit zwei Tagen schon; unaufhörlich. Wenn ich
meine Gedanken aufschreiben will, kommt mir immer so etwas in den Sinn. Nun
sitze ich hier frierend da. Morgen gehe ich wieder ins Büro.
Ich habe meine Einträge hier noch
einmal durchgelesen. Als ich Muhittin von meinem Tagebuch erzählte, hätte er mich
fast ausgelacht. Ich habe ihm auch gesagt, dass mir mein Leben entgleist ist.
Was mache ich eigentlich seit Sommeranfang? Ich arbeite im Büro, hin und wieder
gehen Perihan und ich ins Kino. Ich lese Zeitung und frage mich dabei manchmal,
ob das Gelesene sich in irgendeiner Hinsicht auf mein Leben auswirkt. Jeden
Morgen schlage ich die Zeitung in der Hoffnung auf, dass irgend etwas darin
mein Leben von Grund auf verändern wird. Dass vielleicht ein Weltkrieg
ausbricht oder sonst etwas Umwälzendes geschieht. Dass heißt, einen Krieg will
ich eigentlich nicht. Sondern etwas, das mein Leben umstülpt, weil ich das aus
eigener Kraft nicht schaffe. Mir ist ja selber nicht klar, wie das aussehen
soll, aber eines weiß ich ganz genau, nämlich dass das Leben, das ich derzeit
hier zu Hause und in der Firma führe, träge, armselig, miserabel, furchtbar und
eines ehrenhaften Menschen unwürdig ist. Muhittin hat behauptet,
ich hätte doch eigentlich alles und müsse daher glücklich sein. Stimmt ja auch!
Und wenn ich daran denke, erröte ich … Aber da ist doch etwas, das fehlt. Ich
sage »Gleichgewicht« oder »Balance« dazu, aber genau kann ich es nicht
benennen. Muhittin hat frech gesagt, mir geht es so gut, dass es mir schon weh
tut, und das kränkt mich doch sehr. Jetzt sitze ich hier frierend und
schreibend und werde bis in den Morgen hinein nachdenken, was ich für Bücher
lesen soll. Vielleicht werde ich Ömer einen Brief schreiben.
Mittwoch, 22. Dezember 1937
Seit zwei Tagen liege ich krank im
Bett. Es hat mich ziemlich erwischt, mit viel Fieber. Ich muss mich am Montag
erkältet haben. Als ich abends aus dem Büro nach Hause kam, habe ich mich
gleich hingelegt, mit 39,5 Grad Fieber. Gestern abend waren es immer noch 39
Grad. Mir tränen die Augen, der Kopf tut weh, ich huste und liege völlig
apathisch da. Damit die Kleine sich nicht ansteckt, ist Perihan mit ihr in
Ayşes Zimmer umgezogen, so dass ich in unserem Schlafzimmer ganz allein
bin. Zum Lesen bin ich zu schwach. Ich habe es wieder mit den Bekenntnissen versucht,
um mich abzulenken, doch lässt mich das Buch nur immer wieder an meine eigene
Lage denken … So lese ich ein bisschen in den Zeitungen. Das ganze Land
erlebt einen strengen Winter. Für die Wahlen wurden Kandidaten aufgestellt.
Seit einem Sturm sind zwei Schiffe verschollen. Das alles habe ich schon
mindestens zehnmal gelesen.
Freitag, 24. Dezember
Ich bin immer noch nicht gesund, das
Fieber will einfach nicht sinken. Vom vielen Liegen tut mir schon der Rücken
weh. Ich mache nichts anderes als den ganzen Tag lesen und wie Oblomow
faulenzen. Voltaire, Rousseau, immer das gleiche Zeug, die Zeitungen … Vom
Bett aus starre ich durch das schmale Fenster auf die Bäume und den Himmel
hinaus. Was anderes habe ich heute nicht zustande gebracht. Ich schäme mich
dieses schwachen, kranken Körpers,
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