Cevdet und seine Soehne
wirklich,
dass ich Sie verachte, oder?« beeilte sich Herr Rudolph zu sagen.
»Nein, das nicht, aber verletzt
haben Sie uns schon!« erwiderte Ömer. Und nach einer Pause: »Und geben Sie doch
zu: Sie verachten hier schon manches!«
»0 ja! Und zwar diesen Kerim Naci
Bey! Den hasse ich! Von allen wird er verehrt: von den Arbeitern, den Meistern,
den Tagelöhnern … Und jeder weiß etwas über ihn zu erzählen, genau wie über
meinen Vater, den General. Regelrecht verliebt sind sie in ihn und rühmen seine
Reitkünste, sein Vermögen, seinen Gang, sein Aussehen … Sie arbeiten wie die
Sklaven für ihn, und trotzdem mögen sie ihn. Und was tut er selbst? Gar nichts!
In Eskişehir hat er mehr
Grund und Boden, als er jemals zu Fuß abgehen könnte. Er soll ein guter Mensch
sein, ein guter Abgeordneter, ein guter Schütze … Ha, ein guter Schütze, der
seinen Sklaven über den Kopf streichelt! Und sie erfinden Legenden über ihn.
Zum Teufel mit den Legenden! Wir leben doch im Zeitalter der Vernunft, wozu da
noch diese Verehrung finsterer Mächte?«
»Ich bewundere ihn nicht!« sagte Ömer.
»Ich habe ihn auch satt mit seinem eingebildeten väterlichen Gehabe!«
»Das ist genau das, was meiner Seele
fremd bleibt! Ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen. Die Leute schuften
sich zwölf Stunden am Tag für ihn ab und bewundern ihn auch noch! Wie gut er
reitet, und wie bescheiden er ist! Sie glauben an ihn. Man könnte meinen, sie
arbeiten voller Inbrunst für ihn. Das begreife ich einfach nicht. Aber so was
gibt es eben in Amerika nicht! Dort arbeiten die Leute auch, aber nicht aus
gläubiger Verehrung heraus. Dort arbeiten sie, weil sie wissen, dass man anders
nicht existieren kann. Vielleicht sind ja die Menschen hierzulande
glücklicher, weil sie beim Arbeiten an etwas glauben, aber an all die Lügen und
Legenden kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Verstehen Sie, was ich meine?
Ich möchte eben, dass überall die Vernunft regiert. Aber verachten tue ich Sie
nicht! Wie sollte ich das auch? Aber diesen Kerim Naci Bey, den verachte ich
tatsächlich.«
»Recht so!« sagte Ömer.
»Lachen Sie nur! Sie haben ja ein
gesundes Selbstvertrauen, aber …«
»Ich weiß, ich weiß, vorhin ist es
Ihnen ja herausgerutscht, Sie sind auf mich neidisch wegen meiner jungen Seele
… Weil ich eine Erobererseele in mir trage, oder weil ich das so voller
Überzeugung sagen kann. Sie können nämlich nicht mehr so sein … Dabei sehnen
Sie sich danach!«
»Jetzt hör aber auf!« sagte
Refık, dem die Debatte zu hitzig wurde.
»Keine Sorge, ich bin ihm nicht
böse!« wehrte Herr Rudolph ab. »Auch dann nicht, wenn er wieder ›von‹ zu
mir sagt. Ich kenne ihn ja.«
»Natürlich bringe ich das
›von‹ wieder an!« rief Ömer, schien aber nicht mehr gereizt zu sein.
»Wie wäre es mit einer Runde Schach?« Als der Deutsche daraufhin erst
Refık anblickte, fügte Ömer hinzu: »Dem macht das nichts aus. Der hängt
seinen Gedanken nach und trinkt seinen Cognac. Und während er zwischen seinem
geliebten Heim und seiner geliebten Heimat hin und her gerissen ist, spielen
wir beide eben! Du bist doch nicht beleidigt, Refık, oder?«
»Ach was, spielt ihr nur!«
»Ja, und dann schlafen wir doch am
besten hier.«
»Genau!« rief Herr Rudolph. Dann
hielt er betroffen inne, als würden sie etwas Unschickliches unternehmen. »In
der Welt brodelt es, und wir spielen hier Schach! Aber was soll’s? Jetzt hat es
Österreich erwischt, aber was können wir schon dafür?«
29
TAGEBUCH II
Montag, 14. März 1938
Gestern abend wieder bei Herrn
Rudolph gewesen. Wir haben lange beisammengesessen und getrunken. Wegen eines Schneesturms
haben wir dort auch übernachtet. Ömer und Rudolph haben Schach gespielt und wie
üblich gegeneinander gestichelt. Wir haben viel geredet. Rudolph hat wieder aus
seinem Hölderlin vorgetragen und erklärt, was er von der Seele des Orients und
von Ömers Plänen hält. Auch über mich hat er sich ausgelassen und mir geraten,
nicht vom Pfad des Rationalismus abzuweichen. Was meint er damit genau? Dass
ich meine Gedanken von meinen Gefühlen trennen soll? Wahrscheinlich soll es
Spott über meine Rousseauverehrung sein … Sehr leuchtet mir ein, was er über
die Aufklärung sagt und dass ich zu diesem Land nicht richtig passe. Es ist so
anregend, mit diesem Deutschen zu reden! Der Sturm hat sich immer noch nicht
gelegt … Ich denke immer an das gleiche: Wann soll ich nach Hause zurück, und
wie?
19.
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