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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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alles
zusammen!« Genauso wie Ömer trank er viel Tee mit Cognac.
    »Was meint er eigentlich mit
Rationalismus?« dachte Refık. »Wahrscheinlich, dass ich ausgeglichen sein
und mir meine Gedanken nicht durch allzuviel Eifer verderben soll. Und warum
sagt er mir das? Soll mir dieser sogenannte Rationalismus dazu verhelfen, dass
ich zu meiner früheren Seelenruhe in Nişantaşı zurückfinde? Kann
ich mich von meinem bedrückten Gewissen und all meinen Verstimmungen befreien
und mit meinem jetzigen Bewusstsein mein altes Leben wiederaufnehmen? Nein!«
Ihm kam das Haus in Nişantaşı in den Sinn und Perihan und Melek
… Er vermeinte gar, das Ticken der Wanduhr zu hören und den ganz typischen
heimeligen Duft des Hauses zu riechen.
    »Aber Sie haben Hölderlin doch immer
recht gegeben!« Herr Rudolph hatte noch immer nicht verkraftet, dass Ömer sich
plötzlich gegen Hölderlin wandte. Als er das Zimmer verließ, um Tee zu holen,
rief er: »Das ist ein Dolchstoß in den Rücken!« Und als er mit dem vollen
Tablett wieder hereinkam, fuhr er gleich fort: »Und noch dazu haben Sie
behauptet, ich sehnte mich nur nach Bequemlichkeit! Was fehlt mir denn hier?
Ich habe meinen Generator, in der Küche steht immer noch mein Diener bereit …
Bequemlichkeit! Sie sind mir so ein Rastignac!«
    Draußen hörte man Wölfe heulen.
    »Sie schlafen heute nacht lieber
hier!« Er ging zum Fenster, hielt das mit den Händen abgeschirmte Gesicht an
die Scheibe und sah ins Dunkel hinaus.
    »Wenn einer uns Türken verachtet,
dann bleiben wir auch nicht in seinem Haus!« rief Ömer.
    Refık war nicht ganz klar,
inwiefern Ömer das nun ernst meinte oder nicht, doch Herr Rudolph war
unzweideutig beleidigt. Er wandte sich um und starrte Ömer wütend an,
mit einem Gesicht, dessen Röte nicht allein vom Cognac kam.
    »Sie geben doch so gerne den
Rastignac! Aber so einer werden Sie nie!« Fahrig setzte er sich in seinen
Sessel. Er hantierte mit seiner Pfeife herum, zündete sie an und starrte dann
eine Weile schweigend auf seine Hände. Schließlich fing er doch wieder an: »Nie
werden Sie so einer, ich sage es Ihnen! Mein Land und meine Seele sind nämlich
schon am Ende des Weges, Ihr Land und Ihre Seele dagegen erst am Anfang. Ihre
Seele ist noch jung, weil das Licht, von dem ich vorhin gesprochen habe, erst
seit kurzem darauffällt. Aber zum Reifen wird sie keine Gelegenheit haben, weil
ich nicht wüsste, wie der Samen, der einen Rastignac aus Ihnen macht, in dem
kargen, fruchtlosen Boden des Orients gedeihen sollte. Nein, mit einem
Rastignac ist das gar nicht zu vergleichen. Wenn Sie wenigstens moralische
Bedenken hätten, so wie Refık … Was sehen Sie mich denn so an?«
    »Weil Sie uns schon wieder
kritisieren!« versetzte Ömer. »Ich höre Ihnen gar nicht mehr zu! Nur weil ich
Sie einmal mit Ihrem ›von‹ tituliert habe, glauben Sie jetzt, Sie könnten
sich alles erlauben!«
    »Ich meine es doch nicht böse! Ich
mache mir tatsächlich Sorgen um Sie. Sehen Sie, ich bin jenseits der Vierzig
und weiß genau, was ich vorhabe. Ich suche mir in Amerika eine Stadt aus und
lebe dort mit ein bisschen Ingenieurarbeit, mit Büchern und Musik. Aber Sie …
Für Sie mit Ihrem Ehrgeiz ist das nicht der richtige Boden hier, denn er ist
noch voller Unkraut und Dornengestrüpp. Hinter Balzacs Rastignac steckte die
blutige Französische Revolution. Und hier? Hier ist der größte Herr immer noch
Kerim Naci Bey. Großgrundbesitzer, Eisenbahnunternehmer und Abgeordneter noch
dazu … Für Sie bleibt da nichts mehr übrig, mein Freund. Haha … Was möchten
Sie denn in Besitz nehmen, Herr Eroberer, vor lauter Dornen und Unkraut?«
    »Ich weiß schon, was ich tue!
Mischen Sie sich da nicht ein!«
    Herr Rudolph erwiderte nichts, aber
in seinem Gesicht zuckte es. In sein Teeglas füllte er nun ohne Umschweife nur
noch Cognac und trank ihn hastig. Sie schwiegen.
    »Wann geht denn dieser Sturm zu
Ende!« rief Ömer schließlich. Dann gähnte er so demonstrativ, als ob nun nichts
mehr zu sagen sei. Er stand auf. »Sollen wir Musik hören?
Oder ist es schon zu spät? Wir können auch gehen, wenn Sie wollen!«
    »Ich bitte Sie, bleiben Sie doch
sitzen!« Herrn Rudolph war die Erregung noch immer anzusehen. »Wenn Sie das
Radio genau einstellen, finden Sie Berlin. Die bringen heute bestimmt Wiener
Walzer!«
    Ömer begann am Radio herumzudrehen.
Schon bald wurde er fündig, und ein langsamer, süßer Walzer klang durch den
Raum.
    »Sie glauben doch nicht

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