Cevdet und seine Soehne
Auch
Nermin hatte sie schließlich mit jenem geigenspielenden Jungen erwischt, und
Osman hatte Ayşe daraufhin eindringlich gewarnt. Sie wusste, wie wütend er
sein würde, sollte so etwas noch einmal vorkommen. Er spürte schon jetzt Ärger
in sich hochsteigen und sah von seiner Zeitung auf. Sein Blick fiel auf das
Foto seines Vaters gegenüber an der Wand. Genau ein Jahr war es her, dass sein
Vater gestorben war. Von dem Bild, einer späten Aufnahme, die ihn als alten
Mann zeigte, sah der Vater ihn heiter-nachdenklich an, als wollte er sagen: »So
ist es mit einer Familie! Glaubst du etwa, Gründung und Unterhalt einer Familie
seien ein Kinderspiel?« Als Osman wieder seine Geliebte einfiel, wandte er den
Blick schamhaft ab. Zu seiner Entschuldigung dachte er an die viele Arbeit, die
er seit langen Jahren leistete, an die gewaltigen Anstrengungen, um die Firma
zu vergrößern und seinem Traumziel, nämlich einer eigenen Fabrik, allmählich
näher zu kommen. Als er merkte, dass die Gäste endgültig fort waren, stieg er
mit den Zeitungen nach unten. Er wies Emine an, ihm noch einen Tee zu bringen,
und ging durch die Küche in den Garten hinaus.
Die Damen hatten sich wieder in
ihren Korbstühlen niedergelassen. Als Osman auf sie zuging, tat er dies im
üblichen Habitus des Mannes, der müde heimkehrte und liebevoller Zuwendung
bedurfte. Das tat ihm wohl. Er nickte jeder der Frauen grüßend zu, doch als er
seine Mutter aus der Nähe sah, war ihm plötzlich klar, dass er den deutschen
Bauartikelvertreter unmöglich zu sich einladen konnte. Nur wusste er nicht
gleich, warum eigentlich. Seine Mutter hatte zwar ihre unleidliche Miene
aufgesetzt, gab aber doch blinzelnd zu erkennen, wie angenehm es ihr war, dass
ihr Sohn sich neben sie setzte, und da ahnte Osman auf einmal etwas: Ob seine
Mutter nun fröhlich oder unzufrieden dreinsah, stets hatte sie so etwas an sich,
dass nicht einmal daran zu denken war, ihr den Deutschen am Tisch
gegenüberzusetzen. Das verwunderte Osman um so mehr, als er doch immer stolz
darauf war, dass seine Mutter als Passtochter in einem reichen, kultivierten
Umfeld aufgewachsen war. Als seine Mutter nach dem kurzen Aufleuchten ihres
Gesichts wieder ihre griesgrämige Miene aufsetzte, beobachtete Osman mit ganz
neuer Aufmerksamkeit, wie sie sich in ihren Korbsessel schmiegte und ihre
Teetasse hielt, und plötzlich sah er ein, dass alles, was ihr als gute
Erziehung, Bildung und Reichtum galt, für den Deutschen nichts anderes als
amüsante Exotik sein würde, so recht in sein Bild von Orient, Harem und
osmanischen Frauen passend. So würde ihm also die Vertretung der
Bauartikelfirma durch die Lappen gehen, weil er den Mann nicht zu sich einladen
konnte, dachte er wütend. Er trank den frischen Tee, den das Dienstmädchen ihm
gebracht hatte, und ließ sich von seiner Mutter und von Nermin unterrichten,
was tagsüber so vorgefallen war. Es war die üblichen Nichtigkeiten: Nigân habe
den Gärtner zurechtgewiesen, Nermin sei von Fuat und seiner Frau zum Essen
eingeladen worden, nach Heybeliada habe man einen Dachdecker entsandt, und bei
der kleinen Melek sei nun der Durchfall vorbei. Nachdem von letzterer die Rede war,
entstand ein peinliches Schweigen, und Osman begriff, dass alle an Refık
dachten.
Als sei dies auch für Nigân völlig
selbstverständlich, fragte sie schließlich: »Was hat er denn
geschrieben?« Sie schielte dabei zu Perihan hinüber.
»Das gleiche wie immer!« erwiderte
Osman. »Dass er erst in ein paar Monaten kommt und an irgendwelchen Sachen
schreibt.« Ihm hätte noch einiges Despektierliche auf der Zunge gelegen, doch
zügelte ihn die Anwesenheit Perihans. So brummte er lediglich: »Ausgerechnet
jetzt, wo so viel zu tun wäre …«
Nach einer Pause sagte Nigân heftig:
»Und der andere? Was hat der geschrieben?«
Osman stutzte zunächst und wunderte
sich, dass seine Mutter Refık und Ziya in einen Sack steckte, aber
irgendwie freute ihn das auch. Beschämt über diese klammheimliche Freude, sagte
er: »Ach, das gleiche wie immer!«
»Ich werde dem Briefträger sagen, er
soll uns das Geschreibsel dieses dreisten Soldaten gar nicht mehr zustellen!« rief
Nigân. »Einfach zurückschicken!« Um zu sehen, ob sie damit Anklang fand,
blickte sie erst Osman und dann Nermin an. Resigniert winkte sie dann ab und
jammerte: »Aber warum kommt Refık nicht mehr? Ach Junge, was haben wir dir
denn angetan?« Ihr Gesicht verzog sich.
Osman dachte: »Jetzt heult sie
gleich wieder!«
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