Cevdet und seine Soehne
Dass Nigân beim geringsten Anlass losweinte, war ein Jahr nach
Cevdets Tod ein gewohnter, aber deshalb nicht weniger lästiger Anblick. Osman
sehnte sich danach, in aller Ruhe beim Tee seine Zeitung zu lesen und den
Lindenduft einzuatmen. Besorgt sah er seine Mutter an.
Nigân begann leise zu schluchzen.
Hilflos blickte Osman zu Nermin. Er wollte damit ausdrücken, dass er zu Hause
einfach nicht zu seiner gewünschten Ruhe kam. Nermin aber warf wissend den Kopf
zurück.
»Auf dem Weg zu uns haben Dildade
und Leyla heute Ayşe getroffen«, sagte Nermin und ließ die Schultern
sinken, als zögen schwere Koffer daran. »Wieder mit dem jungen Geigenspieler
…« Ostentativ sah sie dann zu Nigân und deutete damit an, was der eigentliche
Grund für deren Weinen sei. »Leyla hat gesagt, Ayşe sei ganz schön groß
und hübsch geworden. Und dann hat sie wie beiläufig von dem Geiger erzählt, als
sei ihr das nur so herausgerutscht!«
Osman stand auf. »Das ist es also!«
dachte er verärgert. Keiner hörte auf ihn, Ayşe ließ sich zu solchen
Dummheiten hinreißen, und an Ruhe war in dem Haus nicht zu denken. »Wo ist sie?
Ruft sie sofort her!«
»Keiner hat mehr eine Achtung vor
uns! Ach Cevdet, seit du nicht mehr da bist …« jammerte Nigân.
Perihan stand auf. »Ich wollte
sowieso nach der Kleinen sehen! Dann kann ich gleich Ayşe Bescheid sagen.«
Auch sie hatte etwas Weinerliches an sich. Sie wollte wohl nicht zugegen sein,
wenn der Sturm losbrach.
Dass ein solcher unvermeidlich war,
wusste Osman selbst am besten. Er ließ sich von Nermin noch einmal wiederholen,
was Leyla genau gesagt hatte. Nermin berichtete, Nigân sei zwischendurch einmal
zu Ayşe hinaufgegangen und habe sie angeschrien. »Deshalb also weint sie«,
dachte Osman wieder und ging dann nervös im Garten auf und ab, während Nigân
leise vor sich hin schluchzte. »Dabei hatte meine Mutter vielleicht sogar vor,
Ayşe mit Leylas dicklichem Sohn zu verheiraten! Und was macht Ayşe?!
Treibt sich mit einem Geigenspieler herum! In völliger Ungeniertheit! Bis zum
Gouverneurspalast ist sie mit ihm spaziert!« Um sich zu beruhigen, wich er von
seiner sonstigen Gewohnheit ab und zündete sich schon vor dem Essen die erste
Abendzigarette an. Dann kam ihm der Gedanke, seinen Zorn lieber zu bündeln,
damit das Donnerwetter nicht einfach verpuffte, sondern ein anständiges
Ergebnis zeitigte. Ein rascher Entschluss musste gefasst werden, und da wusste
er auch schon, was zu tun war. »Wir müssen sie diesen Sommer unbedingt nach
Europa schicken!« dachte er. »In die Schweiz, zu ihrer Tante Taciser!« Noch
dazu würde sich dort auch Leylâs feister Sohn aufhalten. »Und wenn sie sich
sträubt?« Der bloße Gedanke daran brachte ihn außer sich. Mit kleinen, hastigen
Schritten ging er hin und her. »Ich will in diesem Haus nichts anderes als
Ruhe, aber wegen denen hier …« Ihm fiel wieder Refık ein, was ihn noch
wütender machte. Und dann auch noch dieser Ziya … »Wenn sie sich sträubt,
dann kann sie was erleben! Was ist nur los in diesem Haus! Und diese Blumen da,
alles verwelkt!« Hatte er zuvor noch den Frühlingsduft eingesogen und überall
nichts als Grün gesehen, so fielen ihm nun allenthalben Unkraut und verdorrte
Blumen ins Auge. »Nicht einmal den Gärtner haben sie im Griff!« Er kam an den
seltsamen Blumen vorbei, die Cevdet kurz vor seinem Tod noch gepflanzt hatte
und die nun von Nigân gegossen wurden. War es nicht ungerecht? Sein Vater hatte
doch wenigstens zu Hause noch seine Ruhe gefunden. Da kam ihm seine Geliebte in
den Sinn. Ja, sie war ein Ausgleich dafür. Konnte man ihm etwa übelnehmen, dass
er seine Ruhe woanders suchte? Gerührt dachte er an Kerimans süßen kleinen
Mund, der so ganz anders war als der große, stolze Mund Nermins. Da kam mit
finsterer Miene Ayşe daher. Verweint sah sie allerdings nicht aus. Osman
dachte, wie unhübsch sie doch eigentlich war. »Und noch dazu dumm genug, um auf
den erstbesten hereinzufallen!« Er ging auf sie zu. Ein paar Schritte vor den
Korbstühlen konnte er das Gesicht seiner Schwester nah genug sehen, doch machte
er darin nicht, wie erhofft, Tränen oder Furcht aus, sondern ganz im Gegenteil
etwas Aufmüpfiges.
»Wo warst du?« fragte er und musste
sich wundern, wie scharf das herauskam und wie unsinnig es doch war.
»In meinem Zimmer!« erwiderte
Ayşe trotzig. »Ich habe gelesen!«
»Etwa ein Schulbuch? Wohl eher
nicht, was? Lesen allein ist ja noch keine Kunst!« Er ärgerte sich
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