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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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beiden
Frauen ja bald aufbrechen würden, und ging hinein. Dann stieg er in den ersten
Stock hinunter, nahm die Briefe und Zeitungen an sich und rief hinab, man solle
ihm seinen Tee doch hochbringen. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch,
nahm den mit einer Silbermünze verzierten Brieföffner zur Hand und öffnete die
beiden Umschläge. Zuerst las er Refıks Brief. Der schrieb wie üblich, dass
sich seine Heimkehr um ein paar Monate verzögern werde, schwadronierte dann von
ziemlich undurchsichtigen Unternehmungen, die er seine »Projekte« nannte,
bestellte an alle schöne Grüße und fragte dann noch halbherzig, wie es um die
Firma stehe. Osman pfefferte den Brief in eine Ecke. Dann nahm er den anderen
Brief zur Hand, und obwohl er sich über dessen Inhalt keine Illusionen machte,
fragte er sich doch, ob Ziya seinen Forderungen und Frechheiten irgend etwas Neues
hinzugefügt hätte, was aber nicht der Fall war. Alle drei, vier Monate schickte
der Militär aus Ankara so einen Brief, unterstrich darin wieder seine
Ansprüche, unternahm aber nie etwas, um seine lächerlichen Forderungen auch
durchzusetzen. Osman wollte den Brief schon zerreißen, beschloss dann aber, ihn
seiner Mutter zu zeigen. Um sich abzulenken, griff er zu den Zeitungen.
Sämtliche Schlagzeilen waren von einem einzigen Thema beherrscht, nämlich der
erhofften Angliederung Hatays an die Türkei. Über die letzten Jahre hinweg
hatte Osman die diesbezüglichen Entwicklungen kaum verfolgt, so dass er auch
keine klare Meinung dazu hatte. Dabei hätte zu den diversen Ausschüssen,
Beobachtern und Missionen, die in aller Munde waren, auch er irgendwie Stellung
nehmen oder gar andere darüber aufklären können. »Das kommt nur von der vielen
Arbeit! Ich habe nicht einmal Zeit, mich ein bisschen zu informieren, was in
der Welt so los ist!« Er vertiefte sich in die Lektüre. »Die gestrige
Parlamentsrede von Außenminister Dr. Aras zur Lage in Hatay. Ein unumstößlicher
Beweis für die Unterdrückung der Türken in Hatay …« Irgendwann merkte Osman,
dass er bei jedem Artikel zu dem Thema eigentlich immer das gleiche dachte,
nämlich: »Welchen Nutzen hat es für mein Geschäft, wenn Hatay einmal zu uns
gehört? Was können wir in Hatay verkaufen? Schließlich ist das auch ein Markt
dort, also ist es gut, wenn die Region an uns geht.« Er schämte sich dieser
Gedanken und versuchte sich beim Weiterlesen ganz auf den Inhalt zu
konzentrieren. »Der Hilfeschrei eines Türken in Hatay … Wir müssen auf jeden
Fall zu unserem Recht kommen! …«
    Da ging die Tür auf, und Emine und
entschuldigte sich für den verspäteten Tee. Hinter ihr schlich sich Lâle ins
Zimmer. Osman sah von seiner Zeitung auf, blickte seine zehnjährige Tochter an und
lächelte ihr zu, wie ein von der Arbeit heimkehrender Vater, der seine Tochter
liebt, es eben so tut.
    »Na, was hast du denn heute so
gemacht?« fragte er und sah dabei schon wieder in die Zeitung.
    »Nichts Besonderes!« antwortete
Lâle.
    Da fiel Osman ein, dass er seine
Tochter gar nicht gestreichelt hatte. Er wollte sie zu sich rufen und ihr einen
Kuss geben.
    Emine sagte: »Das kleine Fräulein
hat heute in der Schule ein ›sehr gut‹ bekommen!« Sie stand mit ihrem
Tablett noch in der Tür, um die Szene zwischen Vater und Tochter zu beobachten,
ganz selig, an anderer Leute Glück teilzuhaben.
    »Warum sagst du mir das gar nicht?
Ich welchem Fach denn?« fragte Osman seine Tochter. Als er hörte, es sei
Zeichnen gewesen, sagte er mit gerunzelter Stirn: »Zeichnen ist schon wichtig,
aber Mathematik ist noch viel wichtiger! Rechnen ist die Grundlage von allem!
Was hast du denn in Mathematik?« Er schielte schon wieder in die Zeitung und
erfuhr, dass Lâle an dem Tag nicht Mathematik gehabt hatte. Osman fragte sie,
wo ihr Bruder Cemil sei. »In seinem Zimmer.« Ob die Gäste schon gegangen seien?
Die Antwort darauf wusste er eigentlich schon, denn von unten hörte man
Abschiedsworte. Über seine Zeitung hinweg stellte er dann noch ein paar Fragen
und erhielt lauter einsilbige Antworten. »Ich muss unbedingt diesen Deutschen
zum Essen einladen!« dachte er. Als Lâle schon zur Tür hinausging, fragte
Osman noch hinterher: »Wo ist deine Tante Ayşe?« Und Lâle erwiderte: »Die
ist in ihrem Zimmer und weint!« Osman verzog das Gesicht.
    Er sah wieder in die Zeitung,
horchte auf die Gäste, die eine Ewigkeit brauchten, bis sie zur Tür
hinauskamen, und fragte sich, warum seine Schwester schon wieder weinte.

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