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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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dich
ja sogar amüsiert! Also kannst du mir auch keine richtige Antwort geben …«
    »Warum das heute so war? Darüber
habe ich doch sogar mit Herrn Rudolph gesprochen!«
    Unter einem Baum, der im Dunkeln
kaum auszumachen war, blieben sie stehen und sahen sich gegenseitig an.
    »Und warum war es dann so?« fragte
Ömer. »Es war nämlich furchtbar! Ganz schrecklich!« Er musste wieder an diesen
Kerim Naci denken, der ihn gefragt hatte, wann er heiraten werde und ob seine
Arbeit bis dahin fertig sei; dieser elende Kerl mit den großen Augen und den
herabhängenden Lidern. »Wenn wir schon reden, dann wenigstens darüber!« rief
er. »Warum sind diese Menschen alle so furchtbar gewöhnlich, lauter
Sklavenseelen, warum? Oder findest du sie etwa nicht so?«
    »Wen denn?«
    »Alle!«
    »Moment mal, du kannst doch diese
neureichen Unternehmer und den Parteiinspekteur nicht in einen Topf werfen. Der
Parteiinspekteur ist doch wenigstens für die Reformen!«
    »Und die werden Licht in die Türkei
bringen!« spöttelte Ömer. »Glaubst du etwa wirklich daran? Aha, jetzt sagst du
nichts mehr, also glaubst du daran. Und schickst Briefe nach Ankara und stellst
denen dein ›Dorfprojekt‹ vor. Ha! Begreifst du jetzt, wie es um dich
steht?«
    »Also, erstens stehe ich nicht mit
›denen‹ in Kontakt, sondern nur mit Süleyman Ayçelik. Und zweitens wusste
ich nicht, dass du so wenig von den Reformen hältst!«
    »Ach komm, lenk jetzt nicht ab! Du
hast doch selber schon kapiert, dass mit denen nichts anzufangen ist. Nie und
nimmer!«
    »Da gehen unsere Meinungen
auseinander!« sagte Refık ganz erregt, als wäre das zwischen ihnen zum
erstenmal der Fall. »Ich glaube, dass etwas zu machen ist, und du glaubst an
gar nichts!«
    »Ich glaube an das, was ich selber
machen kann!« beeilte Ömer sich zu versichern.
    Nach einer langen Pause sagte
Refık: »Ich begreife dich nicht. Du siehst irgendwie nicht, was alles
geschieht. Es hat doch jeder mehr Freiheit jetzt. Es mag noch finster sein,
aber nicht mehr so finster wie früher. Sieh doch das endlich ein. Es hat sich
schon etwas getan, es tut sich jetzt gerade was, und es wird sich auch weiter
etwas tun!« Nervös gestikulierte er, als gäbe es noch einiges andere zu sagen,
das ihm nur auf die Schnelle nicht einfiel.
    »Mehr Freiheit!« rief Ömer. Es
sollte spöttisch klingen, aber die Erregung in seiner Stimme war nicht zu
überhören. »Mehr Freiheit! Und am freiesten sind wohl die da!« Dabei
zeigte er in die Richtung, in der er die Arbeiterbaracken vermutete. »Die
kommen her und flehen uns um Arbeit an. Vor zwei Jahren wurden sie noch zum
Straßenbau zwangsverpflichtet, wenn sie die Straßenbausteuer nicht zahlen
konnten. Oder meinst du eher die Leute bei dem Essen vorhin, wo es doch so
amüsant zugegangen ist? Sind die vielleicht viel freier jetzt? Hast du gesehen,
wie sie Kerim Naci angehimmelt haben?«
    Sie schwiegen wieder. In der Ferne
bellte ein Hund. Ein Baum oder irgendeine Blume verströmte einen eigenartig
süßen Duft.
    Dann rief Ömer: »Alles Sklaven hier!
Lauter Heuchler und Lügner! Oberflächliches Pack! Alles ist grundschlecht hier,
es gibt überhaupt nichts Gutes! Oder was man gut nennen könnte, ist höchstens
mitleiderregend. Alles nur armselige Nachahmerei. Du weißt ja, was letztes Jahr
in Dersim passiert ist … Und hast gehört, was der Parteiinspekteur darüber
gesagt hat. Aber was geht mich das alles an, davon will ich gar nicht reden. Du
fängst immer mit deinem Rousseau an, aber was hat der mit den hiesigen
Verhältnissen zu tun? Wenn Rousseau in der Türkei gelebt hätte, dann hätten sie
ihn mit Stockschlägen zur Räson gebracht!«
    Refık ging weiter. »Es ist
nicht alles so schlecht hier«, sagte er seufzend. »Du magst ja teilweise recht
haben, aber was für einen Sinn hat es, immer nur schwarzzusehen? Dann muss man
ja am eigenen Verstand zweifeln!«
    »Genau! Und das tun die Menschen in
der Türkei auch.« Ömer deutete wieder zu den Arbeiterbaracken hin. »Entweder du
glaubst wie die da an Gott, oder du glaubst an gar nichts. Es ist nämlich alles
verlogen hier. Alles falsch und unehrlich. Wer ist denn unser Rousseau hier?
Namık Kemal? Kannst du den lesen? Tut sich da irgendwas bei dir?
Vielleicht hat er ja früher mal was bewegt, denn er war ja noch einer der
Besten. Aber sonst? Dieser Deutsche hat schon recht: Jene Zeit, die in
Frankreich gut fünfzig Jahre gedauert hat, war bei uns nach fünf Monaten wieder
vorbei. Und alles ist wieder in

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