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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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den alten furchtbaren Schlendrian verfallen. So
ist eben die Türkei! Ach, ich könnte weinen, wenn ich an die Türkei denke! Also
darf ich nicht daran denken!«
    »Wenn du das wirklich alles so
meinst, dann ist es schlimm!«
    »Was soll schlimm daran sein? Dass
ich den Tatsachen ins Auge sehe? Sich in Illusionen zu verlieren finde ich viel
schlimmer. Aber hören wir jetzt auf damit! Wie spät ist es? Es wird schon bald
hell.«
    »Nein, reden wir weiter! Ich hätte
noch so viel auf dem Herzen. Ich finde es nicht richtig, dass du so denkst. Ich
begreife nicht, wie man leben kann, ohne an irgend etwas zu glauben!«
    »Was gibt es da nicht zu begreifen?
Jeder lebt doch so. Bin ich vielleicht der einzige, der an nichts glaubt? Woran
hast du vor einem Jahr noch geglaubt?«
    »Ich?« Refık lächelte
treuherzig. »Damals habe ich nicht mal darüber nachgedacht, ob man etwas
glauben soll. Aber du«, setzte er eifrig hinzu, »du weißt doch, das man das
muss. Und wenn man es einmal weiß, gibt es kein Zurück!«

36
  AUF NACH HEYBELİADA
    Schwerfällig stieg Nigân zur Luxusklasse des
Dampfers hinauf und klammerte sich dabei ans Treppengeländer. Schon als kleines
Mädchen hatten ihr diese steilen, engen Treppen, ja eigentlich diese Dampfer
überhaupt angst gemacht, und doch hatte sie sich schon damals auf einer der
Prinzeninseln ein Haus gewünscht. Oben angekommen, nahm sie erfreut den
Parkettboden und die holzgetäfelte Decke zur Kenntnis. Es war ein neuer,
geräumiger und gepflegter Dampfer. Solche positiven Überraschungen vermochten
bei Nigân kurzfristig die düsteren Gedanken zu verscheuchen, die sie ansonsten
über die Türkei hegte. Noch dazu legte der Dampfer pünktlich ab. Die Sitze
waren sauber, und man musste auf nicht auf Zigarettenkippen, weggeworfene
Fahrscheine und sonstigen Kehricht treten. Nur sehr voll war der Dampfer.
Zweifelnd sah Nigân auf die vielen Menschen. Da erblickte sie Emine, die
vorausgeschickt worden war, um mit Taschen, Hüten und Schachteln Plätze zu
besetzen.
    »Ach, gnädige Frau, ich dachte
schon, Sie würden es nicht mehr schaffen!« rief das Dienstmädchen und
stand auf. »Es wollten immer wieder Leute auf Ihre Plätze, aber ich habe sie
nicht gelassen!«
    Nigân setzte sich. Neben ihr nahm
Perihan Platz, und dazwischen brachten sie das einjährige Baby unter. Gegenüber
von Nigân setzte sich Nermin hin, daneben Osman, der sich sogleich eine
Zigarette anzündete. Osmans Kinder stellten sich zu Perihan dazu, während Emine
sich in eine Ecke zurückzog. Refık war nicht mit von der Partie,
ebensowenig die in der Schweiz weilende Ayşe. Nuri passte im Unterdeck auf
den festgezurrten Kühlschrank auf. Dass für das Haus auf Heybeliada wieder kein
eigener Kühlschrank gekauft worden war, hatte zu unerquicklichen Diskussionen
geführt, aber nun wollte Nigân an derlei nicht denken und lieber die Überfahrt
genießen.
    Sie fuhren zu ihrem Sommerhaus, das
Cevdet ein Jahr vor seinem Tod noch hatte bauen lassen. Im vergangenen Jahr
hatten sie wegen des Trauerfalls nicht hinfahren können, obwohl ein Großteil
der Vorbereitungen schon getroffen war, und so hatte Nigân diesmal aus Aberglauben
erst recht spät damit beginnen lassen, und es war schon der erste Julisonntag.
Diese Verspätung war allerdings auch noch anderen Faktoren geschuldet.
Ayşe hatte ihren Schulabschluss gemacht, und danach hatte man sich darum
gekümmert, sie in die Schweiz zu verschicken. Osman hatte noch verschiedenes zu
erledigen gehabt, und so war eben alles nur langsam in Fahrt gekommen. »Habe
ich auch nichts vergessen?« durchfuhr es Nigân. Sie wollte aber nur an Schönes
denkenund sah zum Fenster hinaus. Der Dampfer schlingerte an der Serailspitze
vorbei. Ganz oben sah man das Topkapı-Serail,
unten die Statue von Atatürk, wo er mit in die Hüfte gestützter Hand dastand.
Es hieß, dass Atatürk krank sei. Mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der
gewöhnt ist, Lob und Tadel zu verteilen, dachte Nigân: »Ich schätze sehr, was
er alles getan hat!« und merkte, wie sie wieder zu blinzeln begann. Es war dies
der schönste Augenblick vielleicht nicht nur der Überfahrt, sondern des ganzen
Sommers. Alles war in Ordnung und sie selbst mit sich im reinen. Sie durfte
alles vergessen und an sich denken. Fünfzig war sie nun. Sie versank in
Erinnerungen.
    Das Geschrei eines fliegenden
Händlers ließ sie hochfahren. Dabei hatte sie an so Schönes gedacht: an die
ersten Jahre mit Cevdet in Nişantaşı. Sie

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