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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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ihres Hauses zu sehen sein.
Die Enkel standen ans Fenster gelehnt da. Auch Perihan stand auf und nahm ihr
Kind in den Arm. Wie so oft dachte Nigân, dass Perihan doch selbst noch ein
Kind war. Und Refık ja eigentlich auch, aber keines, über dessen
Ungezogenheiten man hinwegsehen durfte. Wieder hatte er in einem Brief
geschrieben, dass seine Rückkehr sich verzögern würde. Dieses Thema schwärte
wie eine Wunde in Nigâns Herzen. Sie sagte sich das oft ganz explizit und
machte insgeheim Perihan für diese Wunde verantwortlich, denn schließlich hatte
sie ihren Mann nicht zu Hause halten können.
    Sie standen auf, als der Dampfer
kurz vor der Anlegestelle war. Nigân sah sich um, ob sie nichts vergessen
hatten. Beim Hinabsteigen hielt sie sich wieder krampfhaft am Treppengeländer
fest und schimpfte mit den Enkeln, die nicht genügend aufpassten. Sie warf
einen prüfenden Blick zu Nuri und dem Kühlschrank und ging dann mit zaghaften
Schrittchen über die schmale Laufplanke an Land. Dort stieg ihr sogleich der
übliche Pferde- und Mistgeruch in die Nase, und gerührt dachte sie daran, wie
sie die ersten Male mit Cevdet auf die Insel gekommen war.
    Die Fahrgäste drängten zu dem Platz,
an dem die Kutschen warteten. Osman gelang es, eine Kutsche zu bekommen, aber es
dauerte lange, bis das Gepäck verstaut war und alle saßen. Cemil wurde
ausgeschimpft, weil er unbedingt neben dem Kutscher sitzen wollte. Dann setzte
sich das überladene Gefährt schwerfällig in Bewegung. Schaukelnd kamen sie
allmählich in Fahrt, und das regelmäßige müde Hufgeklapper erinnerte Nigân an
die allzu seltenen und immer herbeigesehnten Besuche, die sie als Kind und
junges Mädchen auf der Insel machen durfte. Osman grüßte die Insassen anderer
Kutschen oder irgendwelche Geschäftsleute, die ihn alle kannten, obwohl er erst
seit zwei Jahren auf die Insel kam, und jedesmal tippte er sich dabei an den
Hut, ohne ihn aber je zu lüften. Danach erläuterte er immer seiner Mutter, wen
er gerade gegrüßt hatte. Nigâns Augen waren zwar beileibe nicht so schwach,
dass es dieser Erklärungen bedurft hätte, doch hörte sie aufmerksam zu. Foti
war mit seiner Metzgerei umgezogen; die beiden Schwestern Mihrimah kamen auch
gerade erst auf die Insel; Zekeriya, der nun auch in Tabak machte, ging mit
seiner Tochter zum Markt hinunter; gegenüber der Kirche wurde gebaut; der
Eisenhändler Sacit und seine Familie war noch nicht eingetroffen; der
Rechtsanwalt Cenap Sorar grub das Gärtchen vor seinem kleinen Haus um; im Haus
von İsmet Paşa waren die Jalousien hochgezogen; und beim Händler
Leon, der nach Europa geflüchtet war, als seine Betrügereien aufflogen, waren
andere Leute eingezogen.
    »Wie die Zeit vergeht!« murmelte
Nigân.
    Sie sah der Reihe nach ihren Sohn
und ihre Schwiegertöchter an, ob einer von ihnen ihre Worte vernommen habe.
Anscheinend keiner. Sie hingen alle ihren eigenen Gedanken nach. Osman
erzählte, und die anderen hörten zu. »Wie die Zeit vergeht!« Nigân dachte an
die anderen Kaufmannsfamilien, die auf die Prinzeninseln fuhren. Sie sah einen
Wasserträger mit seinem Esel und fühlte plötzlich, was sie mit diesen anderen
Familien verband. Aber irgend etwas musste ihre eigene Familie doch zu etwas
Besonderem machen? Perihan war außergewöhnlich hübsch, die Enkel strotzten vor
Gesundheit, und Osman war ein Ausbund an Fleiß. Das war bei weitem noch kein
schlagender Beweis. Verstimmt sah sie hinaus. Gleich würden sie bei ihrem Haus
ankommen. Konnte es denn sein, dass sie unter all den türkischen
Kaufmannsfamilien nur eine von vielen waren? So war es ihr noch nie erschienen.
Sie flüchtete sich in den Trost der Vergangenheit.
    Die Vergangenheit: Stolz und
Lebenswillen bezog sie vor allem daraus. Die Zukunft war ungewiss und
erschreckend: Wie konnte man sicher sein, dass nicht alles kaputtgehen und
Firma und Familie eines schönen Tages unter einer unerklärlichen,
fürchterlichen Sturzwelle begraben würden? Die Zeit verging so schnell. Sie
sollte langsam vergehen. Alles sollte sich nur langsam ändern, und das Neue
sollte das Alte pfleglich behandeln und jeder mit seiner Zeit und seiner
Existenz zufrieden sein und keiner auf den anderen allzusehr achtgeben.
Vorsichtig stieg sie aus der Kutsche aus. Eines der müden Pferde schüttelte
schnaubend den Kopf. Der Sommer begann.

37
  DIE GLEISE WERDEN VERLEGT
    Refık wurde durch ein Geräusch geweckt.
Direkt vor seinem Fenster bellte ein Hund. Er erkannte ihn an der

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