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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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beschloss er, zum Tunnel zu
gehen, und verließ die Baracke.
    Vor der Tür sah er Hacı, der in
aller Gemütsruhe Kartoffeln schälte, als könnte er sein Leben lang so
weitermachen und als würde nicht die Schienenlegemaschine kommen und innerhalb einer
Woche die gesamte Baustelle aufgelöst und die Baracken geleert werden. Hacıs Hund schlief neben ihm in
der Sonne. Um die beiden nicht zu stören, ging Refık wortlos an ihnen
vorbei und stieg den Hügel hinan. Nicht den schmalen Trampelpfad entlang, sondern
aufs Geratewohl zwischen den Dornen und Felsen hindurch. Bei seiner Ankunft war
alles schneebedeckt gewesen, nun wuchsen allenthalben wilde Kräuter. Die
gelbgestrichenen Holzbaracken mit den notdürftigen Dächern, den kleinen
Fenstern und den dazwischen herumwuselnden Menschen waren Refık kein
fremder Anblick mehr, genausowenig wie der Fluss, an dessen Rauschen er sich so
gewöhnt hatte, dass er schon bewusst hinhören musste, um es überhaupt noch
wahrzunehmen. Wie am ersten Tag aber faszinierte ihn der Himmel, zu dem er
immer wieder blinzelnd hinaufsah: so strahlend und reglos und weit. Nur
erfassten ihn nun beim Hinaufsehen andere Gedanken: »Was wird nur aus meinem
Dorfprojekt? Und was macht jetzt Perihan? Mit wem wird mich der Abgeordnete
bekannt machen? Ich bin ganz außer Atem, dabei wollte ich doch jeden Tag
Gymnastik treiben!«
    Beim Betreten des Tunnels wurde
Refık wie jedesmal von einem seltsamen Schuldgefühl erfasst, aber durch
die allgemeine Betriebsamkeit wurde es gleich wieder verscheucht. Der Tunnel an
sich war fertiggestellt, und nur an zwei Stellen wurde noch gearbeitet: In der
Tunnelmitte war noch ein Stück Wand zu verkleiden, und an dem Tunnelende, von
dem Refık herkam, musste vor dem Schienenverlegen der Boden noch mit
Steinen ausgelegt werden. Da das Gleis der Förderbahn schon bedeckt war,
mussten die Steine auf primitive Weise mit Eseln herbeigeschafft werden, was
vor allem die Ingenieure in den Wahnsinn trieb. Obwohl sie selbst nichts mehr
zu tun hatten, waren Ömer und seine beiden jungen Teilhaber zugegen, um die
Arbeiter anzutreiben und ihnen bewusstzumachen, wie bedeutend jeglicher
Zeitverlust nun war. Die Ingenieure taten alles, um die Sache zu beschleunigen,
und legten beim Entladen der Steine auch selber Hand an. Manchen der Arbeiter
war es peinlich, dass ihre Herren körperliche Arbeit verrichteten, und sie
eilten sogleich herbei, um sie daran zu hindern, andere wiederum waren vor
lauter Erschöpfung zu gar nichts mehr in der Lage und standen ihren Kollegen
nur noch im Weg. Als Ömer in all dem Trubel Refık erblickte, nickte er ihm
spöttisch lächelnd zu. Refık ging auf einen Esel zu, um beim Entladen behilflich zu sein, aber kaum
berührte er die Kiepe auf dem Tier, da merkte er auch schon, wie falsch und
künstlich das bei ihm wirkte, und er ging gleich wieder weg. Bis er beim
anderen Tunnelende wieder hinausging, hörte er das Rufen der Arbeiter und das
Grollen der aus den Kiepen purzelnden Steine hinter sich herhallen. Er kam auch
an den still vor sich hin arbeitenden Maurern vorbei, sah sie aber kaum an, da
ihn wieder das Schuldgefühl plagte.
    Danach ging er auf den Steinen, die
für die Schienenverlegung bereitlagen, weiter in Richtung Westen. Er wollte
sehen, wie weit die Schienenlegemaschine an den Tunnel herangekommen war, und dann
noch einmal von oben einen Blick auf die ganze Umgebung und die anderen
Baustellen werfen. Dabei dachte er wieder an seine Projekte, an Perihan, sein
Heim, Ömers Arbeit, seine eigene Zukunft, aber nur immer ganz kurz, von einem
Thema zum anderen springend, und dann sah er auch wieder zu irgend etwas hin,
was seine Aufmerksamkeit erregte, zum Fluss, zu einer seltsamen Pflanze, zu den
Baracken oder einer Wolke, die wie ein Gesicht aussah.
    Nach etwa sechshundert Metern
erblickte er die Schienenlegemaschine auf einer Brücke, die Kerim Naci hatte
bauen lassen. Ohne an die Lokomotive und die schwerbeschäftigten Arbeiter
heranzutreten, sah er zum erstenmal in der Praxis dem Prozess des
Schienenlegens zu, den er im Unterricht in allen Details durchgenommen hatte.
Mitten unter den Arbeitern sah er den berühmten Bekir, den einzigen
Schienenleger der Türkei, den der Hochschulprofessor damals auch erwähnt hatte.
Diesen allen Eisenbauunternehmern verhassten Mann kannte er schon aus
Nişantaşı, wo jener mit dem Geld, das er zusammen mit seiner
erfahrenen Mannschaft verdiente, Grundstück um Grundstück kaufte. Bekir
spazierte rauchend

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