Cevdet und seine Soehne
umher, und als Refık schon einmal meinte, ihre Blicke
hätten sich getroffen, fragte er sich wieder: »Was tue ich eigentlich hier?«
Und als er so beim Gleisverlegen zusah, fiel ihm wieder ein, wie er einst
behauptet hatte, sein Leben sei ihm entgleist, und über sich selber schmunzelnd
ging er davon.
Er kehrte zur Baracke zurück. Als er
vor der Tür Hacı und seinen Hund nicht mehr sah, fehlte ihm beinahe etwas.
Er setzte sich an den Tisch und blätterte in Ankara herum. Nein, lesen
würde er jetzt nicht können, also zwang er sich doch, den Brief zu schreiben.
Rasch leierte er das Übliche herunter, die Fragen nach seiner Tochter, nach
Perihan und den anderen, und zum Abschluss schrieb er wieder einmal, dass er
erst später heimkehren könne. Ihm lief vor lauter Scham der Schweiß von der
Stirn, als er das schrieb, und er fühlte sich bemüßigt, Gründe dafür anzugeben.
Als er diese im einzelnen durchging, sah er vor seinem inneren Auge das
»Dorfprojekt«. Erregt stellte er sich vor, was für einen Eindruck auf
reformfreudige, gute Menschen, wie sie in dem Roman geschildert waren, jener
Teil seines Projekts machen würde, in dem – ausgehend vom grundlegenden
Gedanken der »türkischen Besonderheit« – erläutert wurde, wie in die
Dorfeinheiten, die zu größeren Strukturen zusammengeschlossen waren, auf
billige Weise die ansonsten nur in Städten mögliche Infrastruktur gebracht
werden konnte. »Dieses Projekt wird sich durchsetzen, das weiß ich ganz
bestimmt!« murmelte er und stand auf. Er sah auf das Goethebild und ging dann
rauchend im Zimmer herum. Schließlich setzte er sich wieder, brachte schnell
den Brief zu Ende und legte sich ins Bett.
Als er wieder erwachte, war es schon
dunkel. Es war zehn Uhr. »Dann habe ich ja sieben Stunden geschlafen!« Er
zündete eine Kerze an und las den Brief noch einmal durch. Doch, er war
zufrieden damit. Aus dem Nebenraum ertönte Gelächter. Als er hinüberging,
schlug ihm sofort Rakıgeruch ins Gesicht.
»Da ist ja unser Freundchen!« rief
Enver, der mit Salih zusammensaß. »Wo warst du denn?«
»Ich bin eingeschlafen.«
»Kannst ruhig weiterschlafen! Wir
sind fertig! Absolut fertig!« schrie Enver. »Jetzt verlegen sie die Gleise. Die
Lokomotive ist gekommen. Sie hat laut gepfiffen, und wir haben eine grüne Fahne
geschwungen! S0000 haben wir sie geschwungen! Komm nur her, Bekir, haben wir
gesagt, verleg deine verdammten Gleise!« Er stieß ein Lachen aus und fuhr mit
der Hand in der Luft herum, als wollte er zeigen, wie sie die Fahne geschwungen
hatten. Dann wurde er plötzlich ganz ernst, als sei ihm etwas eingefallen.
»Trinkst du einen mit?« Er hielt Refık die Rakıflasche hin.
Refık blinzelte in das Licht
der beiden Petroleumlampen, die auf dem Tisch und in einer Ecke
brannten. »Sie haben es also geschafft!« dachte er.
»Ob du einen mittrinkst?«
wiederholte Enver ruppig.
»Wo ist Omer?«
»Der Chef ist wahrscheinlich draußen«,
erwiderte Enver spöttisch. »Er muss noch einen Beamten loswerden, den er mit
Bestechungsgeldern zugeschüttet hat!«
Refık ging hinaus. Er hörte
noch, wie die beiden ihm hinterherlachten. Auf einem vor die Baracke
gestellten Tisch brannte ebenfalls eine Petroleumlampe. Ömer saß einem
Kontrollbeamten gegenüber, den Refık drei Monate zuvor beim Essen im Haus
von Kerim Naci kennengelernt hatte. Die beiden unterhielten sich. Von den
Arbeiterbaracken her waren Trommelschläge zu hören.
»Aha, endlich wach!«
Refık wollte Ömer gratulieren,
aber der Beamte stand sofort auf, drückte Ömer die Hand und murmelte ihm
schnell noch etwas zu. Dann schüttelte er Refık die Hand und gratulierte
auch ihm.
Als er fort war, sagte Refık
scheu zu Ömer: »Meinen Glückwunsch!«
Ömer deutete auf den im Dunkel
verschwindenden Beamten: »Wegen nichts und wieder nichts musste ich auch dem
noch was zahlen!« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Soll sie doch alle der
Teufel holen!«
»Ja, es ist schon unverschämt, was
zu verlangen ohne echte Gegenleistung.«
»Ach was, den meine ich doch gar
nicht! Absolut alles soll der Teufel holen: die ganze Arbeit hier, die
Intrigen, die Beamten aus Ankara, Kerim Naci, alles, alles, alles!«
Besorgt sagte Refık: »Aber es
ist doch vorbei jetzt!«
»Ja, das ist es, und ich habe einen
Haufen Geld dabei verdient!«
Sie schwiegen. Zu der Trommel in den
Arbeiterbaracken gesellte sich nun eine Fiedel. Flotte, fröhliche Musik
schallte in die ruhige Nacht hinaus. In der Baracke
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