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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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an.
»Vielleicht hätte ich doch zu meinen Eltern ziehen sollen!« Sie hatte das lange
in Erwägung gezogen und vor drei Monaten sogar den Beschluss dazu gefasst, aber
ihre Mutter hatte sie umgestimmt und erklärt, Refık sei ja nicht von ihr
weggegangen, sondern von Istanbul. »So ein Unsinn!« Vielleicht aber auch nicht.
Wenn sie etwa an die Briefe Refıks dachte, in denen er alle Schuld auf
sich nahm … Stolz dachte sie an ihre Antwort darauf, nämlich dass es für sie
nie in Frage gekommen sei, von hier auszuziehen. Ihr war, als sei Refık
deswegen auch stolz auf sie. Sie eilte mit Melek ins Zimmer zurück und legte
ihr schnell frische Windeln und ein Hemdchen an. »Was hätte eine andere Frau an
meiner Stelle getan?« Wie immer fand sie auf diese Frage keine Antwort, da sie
ihre Situation als unvergleichlich empfand. Ganz einfach deshalb, weil
Refık unvergleichlich war. Keine ihr bekannte Frau hatte einen Mann wie
Refık. Melek war nun angezogen und nieste immer noch. Um sich zu kasteien,
dachte Perihan: »Ich bin nur deshalb noch immer da, weil ich keinen Stolz im
Leibe habe!« Sie legte Melek in ihr Bett zurück und
seufzte auf. Um die Gedanken zu verscheuchen, die ihr seit sieben Monaten keine
Ruhe ließen, setzte sie sich an den Tisch, griff zur Teetasse und sah in die
Zeitung.
    Der Tee war kalt. In der Zeitung stand:
»Weltfrieden gerettet. Daladier, Hitler, Chamberlain und Mussolini schließen
Münchner Abkommen.« Perihan begann angeregt zu lesen, bemüht wie immer, in die
Welt außerhalb ihrer selbst einzutauchen. Es gab niemanden im Haus, der die
Nachrichten aus dem In- und Ausland ähnlich intensiv verfolgte wie sie. Sie
hatte die Meldungen über die Münchner Konferenz schon fast alle durch, als
Nermin ohne anzuklopfen ins Zimmer trat.
    »Hast du grünen Zwirn? So einen!«
fragte sie und hielt Perihan einen pistazienfarbenen Knopf hin.
    Mit einem flauen Gefühl im Magen
stand Perihan auf. Als fühlte sie sich schuldig, mit Nermin allein im Zimmer zu
sein, und als müsste sie diese Situation so schnell wie möglich hinter sich
bringen, öffnete sie hastig die alte Schultasche, die sie als Nähkästchen
verwendete, kramte kurz darin herum und fand das Gesuchte.
    »Hier!« Mit der anderen Hand schloss
sie die Schultasche, die ihr etwas Kleinmädchenhaftes verlieh.
    »Danke!« Nermin schmunzelte wie
jedesmal, wenn sie die Tasche sah. Dann zeigte ihre Miene an, dass sie schon
wieder ganz bei ihrem Knopf und bei dem Kleid war, an das er genäht werden
musste, und schon war sie draußen.
    Das Schmunzeln über die Tasche war
Perihan diesmal nicht liebevoll, sondern eher verächtlich, ja geradezu
herausfordernd vorgekommen. Sie starrte die längst wieder geschlossene Tür an
und fragte sich, ob sie sich nun täuschte oder nicht. Sie musste wieder an den
gutaussehenden Mann denken. Jene Begegnung nahm in ihrer Erinnerung Tag für Tag
neue Formen an. Mit seinen langen Koteletten, dem Schnurrbart, dem gebräunten
Gesicht und den gepflegten Händen hatte der Mann einen stattlichen Eindruck
gemacht, doch war er von einer Art, die Perihan Furcht und sogar Abscheu
einflößte. Perihan war zum Bahnhof gekommen, um ihre Mutter, mit der sie sich
in Karaköy getroffen hatte, zu ihrem Vorortzug zu bringen. Nermin kam mit dem
Mann gerade aus dem Bahnhofsrestaurant heraus. Sie hatten einander im gleichen
Augenblick gesehen, und Perihan hatte den Blick nicht abwenden können. Erst war
Nermin wohl kurz in Aufregung geraten, aber dann hatte sie allmählich ein
erstaunlich unerschrockenes Lächeln aufgesetzt, das Perihan direkt angst
machte. Als sie noch acht, zehn Schritte voneinander entfernt waren, hatten sie
beide zur Seite gesehen. Perihans Mutter, die von ihren Einkäufen erzählte,
hatte nichts mitbekommen. Als Perihan am Abend zusammen mit Osman und Nermin
nach Heybeliada zurückgefahren war, musste sie sich über Nermins zur Schau
gestellte Selbstsicherheit so sehr wundern, dass sie schon gemeint hatte, die
Frau am Bahnhof sei eine Zwillingsschwester Nermins gewesen. Einige Wochen
später hatte Nermin ihr wütend erklärt, Osman sei nichts weiter als eine
Maschine, die eine andere Maschine, nämlich die geldspuckende Firma, am Laufen
halte, und außerdem habe er sich lange eine Geliebte gehalten, und da hatte
Perihan dann nicht umhinkönnen, Nermin ein paar nicht von der Hand zu weisende
Gründe für ihr Verhalten zuzubilligen. Je öfter Perihan dann mit provozierenden
Worten und Gesten Nermins konfrontiert wurde, um

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