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Cevdet und seine Soehne

Cevdet und seine Soehne

Titel: Cevdet und seine Soehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Orhan Pamuk
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bleibt denn unser großer
Reformer?« fragte Muhtar.
    Ömer erwiderte, der werde bald
eintreffen, und Muhtar nickte. Refet indessen hörte gar nicht mehr auf zu
nicken. Sie hörten gemeinsam Radio, denn der Sender Radio Ankara nahm an jenem
Tag seinen Betrieb auf. Das
Vormittagsprogramm bestand aus einer Reihe von Vorträgen. Gerade war vom
Weltfrieden und der türkischen Außenpolitik die Rede. Ömer lauschte aufmerksam.
    Als danach ein Vortrag mit dem Titel
»Für den Frieden in der Welt ist eine starke Türkei nötig!« angekündigt wurde,
stand Muhtar mit einer Behendigkeit auf, die man seinem massigen Körper nicht
zugetraut hätte.
    »Das ist ja alles gut und schön,
aber was kommt danach?« fragte er. »Wer weiß schon, was danach kommt?«
    Refet sah von seiner Zeitung auf und
erwiderte trocken: »Danach kommt ein Vortrag über die İş-Bank.« Mit der diebischen Freude eines
Mannes, der für sein Leben gern einen Treffer landet, fügte er hinzu: »Da war doch
mal Celâl Bayar Direktor, dein ganz spezieller Freund! Also geht es mit dem
wieder weiter!« Er lachte auf.
    »Gott behüte!« rief Muhtar verärgert
aus und begann im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Als er auf Nazlıs Kleid
einen Faden entdeckte, beugte er sich vor und klaubte ihn herunter. Schließlich
sah er auf die Uhr. »Wo bleibt er denn?« Und zu Refet gewandt sagte er: »Dann
geht also alles so weiter wie bisher? Das meinst du doch, oder?«
    Voller Betrübnis musste Refet
feststellen, dass er zu gut getroffen hatte. »Aber Muhtar, da hast du mich
falsch verstanden! Und wie sich alles ändern wird!« Er sah, wie geknickt sein
Freund war. »Nimm dir doch nicht alles so zu Herzen! Heute ist ein Feiertag, da
muss man fröhlich sein! Wozu diese Trauermiene?«
    »Setz dich doch, Papa!« sagte Nazli.
Sie warf Refet einen vorwurfsvollen Blick zu, und jener erkannte, wie sehr er
ins Fettnäpfchen getreten war.
    »Komm, trinken wir Wein!« rief er
aus, und als sei er hier zu Hause, ging er umstandslos in die Küche und holte eine
Flasche. Erst schenkte er dem immer noch hin und her wandernden Muhtar ein Glas
ein, dann den beiden Verlobten. Schließlich erzählte er eine Anekdote. Zu ihm
in den Laden sei einmal Hacı Resul gekommen, ein Geistlicher, der auch im
Parlament saß. Er habe einen Kühlschrank kaufen, sich diesen aber genau ansehen
wollen. Da habe Refet ein Modell aufgemacht, in dem auch ein paar Flaschen Wein
gewesen seien. Hacı habe zunächst gestaunt, und dann habe er … Es folgte
noch eine zweite Anekdote. Dann schwelgten Refet und Muhtar in Erinnerungen an
ihre gemeinsame Zeit im Parlament und den Kampf gegen religiöse Fanatiker und
Reformgegner. Muhtar erzählte, was er in Manisa alles unternommen hatte, um das
Hutgesetz bei der Bevölkerung durchzusetzen. Er trank nun Glas um Glas und
wurde immer fröhlicher. Auch die beiden Verlobten hielten einigermaßen mit. Als
Muhtar gerade wieder etwas zum besten gab, unterbrach er sich auf einmal.
    »Ah, jetzt sitzt er in diesem Aufzug
auf dem Balkon!«
    »Wer denn?« fragte Refet.
    »Na, unser Nachbar, der Oberst!
Schämt sich nicht im mindesten! Und unrasiert ist er auch wieder! Am
fünfzehnten Jahrestag der Republik!«
    »Das kann uns doch egal sein!« sagte
Refet. »Es ist eben ein Feiertag, da kann sich jeder amüsieren, wie er will!«
    »Von wegen!« rief Muhtar. »Ich gehe
jetzt rüber und klingle bei ihm, und ich weiß auch schon, was ich ihm sage …
Was gibt’s denn da zu lachen, Refet? Du bist ja auch schon wie die da! Sitzt
gleichgültig da und lacht und trinkt! Ja, ist es denn aus und vorbei mit uns?
Wir sind doch die Generation der Reformer!«
    »Jetzt lass den Mann doch, das ist
eben sein Morgenvergnügen!« sagte Refet.
    »Papa, trink nicht soviel!« mahnte
Nazli.
    »Was heißt hier Morgenvergnügen!
Weißt du, wie spät es ist? Halb zwei! Wo ist jetzt dieser Refık?«
    »Wir haben doch gesagt, wir essen um
zwei«, beschwichtigte Nazli.
    »Er ist bestimmt bald da!« sagte
Ömer.
    »Jetzt beruhige dich doch«, sagte
Refet. »Das viele Trinken tut dir nicht gut!«
    »Jetzt fang bloß nicht damit an!« rief
Muhtar. »Was meinst du, warum Atatürk im Sterben liegt?« Sein Gesicht lief
puterrot an. »Ich geh jetzt rüber und läute bei dem! Von wegen Morgenvergnügen!
Und wo bleibt der junge Kerl?«
    Nazli stand auf. »Papa, du setzt
dich jetzt hin!«
    »Ist heute ein Tag zum Hinsetzen?
Ich komme noch zu spät ins Parlament! Und dann heißt es, Muhtar hat dem
Parlamentspräsidenten

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