Cevdet und seine Soehne
einen Hauseingang gedrückt, als schämte er sich seiner blauen Uniform. Ein
Junge ging an der Hand seines Vaters dahin und schwenkte eine kleine Fahne. Der
Vater legte den Kopf schief und las die Überschriften von Zeitungen, die am
Boden ausgebreitet waren. »Fünfzehn Jahre Republik« stand in großen Lettern da.
Nazli dachte: »Ich bin zweiundzwanzig und werde heiraten. Aber wann?« Ömer trug
oft eine abweisende Miene zur Schau. Er kam zu ihr nach Hause, setzte sich in
den Sessel gegenüber der Ansicht von Venedig und sah Nazli an, aber sein Blick
schien durch sie hindurchzugehen. Sie hätte ihm wohl etwas Aufmunterndes
erzählen sollen, aber meist fiel ihr einfach nichts ein. Dabei hatte sie sonst
nicht das Gefühl, unbeholfen oder töricht zu sein. Sie war durchaus der
Meinung, dass in ihren Briefen an Ömer alles enthalten war, was ein modernes
junges Mädchen ausmachte. Schließlich war sie die Tochter eines Vorreiters der
Reformen. Sie war kein scheues Wesen, vertrat zu vielem eine eigene Meinung,
und wenn sie auch keine ausgesprochene Schönheit war, so war sie doch auch
nicht hässlich.
Um sich von ihren Zweifeln
abzulenken, wechselte sie auf die andere Straßenseite, wo an der Bretterwand
vor einer Baustelle Plakate angebracht waren. Auf einem stand: Mit dem Volk
für das Volk, und man sah eine Frau mit Kopftuch, die ein Kind auf dem Arm
trug. Bei einem anderen lautete die Überschrift: Die neue Erziehung in Zeiten
der Republik, und unter dem Bild einer Ansammlung von Dorfbewohnern, die
allesamt eine Mütze trugen, war an einer Tabelle abzulesen, wie Jahr für Jahr
die Alphabetisierung voranschritt. Nazli kam Refık in den Sinn; er tat ihr
leid. Da hatte er sich monatelang abgemüht und ein Projekt entworfen, um über
das bisher schon Erreichte noch hinauszukommen, aber er stieß gegen eine Mauer
des Unverständnisses. Ihr Vater hatte ihn in Ministerien geschleppt, hatte
eigens Abgeordnete zu sich nach Haus eingeladen, um sie mit Refık bekannt
zu machen, aber nie war etwas dabei herausgekommen. Es war wohl außer
Refık auch jedem klar, dass die Sache so ausgehen würde, und Nazli konnte
sich auch nur wundern, dass Refık selbst so naiv war. Wie konnte ein
intelligenter, gebildeter Ingenieur nur so bar jeder Vernunft sein? »Was ist
eigentlich Vernunft?« Ihr Vater hatte gesagt, Onkel Refet sei vernünftig. Er
hatte sich aus der Politik zurückgezogen und betrieb nun Handel. Er hatte
draußen vor der Stadt, in Keçiören,
ein Häuschen, in dem er bei Tavlaspiel und Wein vor dem Kamin saß und seinen
früheren Parteigenossen dazu aufrief, doch einmal der Realität ins Auge zu
sehen. Ihr Vater nämlich war nicht vernünftig. Genausowenig wie dieser
Refık, der nicht sah, was jedem anderen sofort einleuchtete. Sie dachte an
Ömer. Er hatte an seiner Baustelle so viel Geld verdient, war also er
vernünftig? Es machte ihr angst, darüber nachzudenken. Sie kam nicht los von
ihren deprimierenden Gedanken. Und müde wurde sie auch. Sie ging wieder auf die
andere Straßenseite, in Richtung Haus. »Und was ist mit mir? Bin ich
vernünftig?« Sie ging ein paar Schritte. »Ömer ist intelligent, gutaussehend
und jetzt auch noch wohlhabend!« dachte sie errötend. Gerne wäre sie wieder so
unschuldig gewesen wie das Gouverneurstöchterlein im roten Kleidchen. Aber
sowohl sie selbst als auch die ganze Republik hatten sich in Sünde verstrickt.
Wie sie nur darauf wieder kam? Vielleicht hatte ja doch ihr Nachbar recht, der
an so einem Tag draußen im Garten im Schlafanzug rauchte. »Ich bin eine Tochter
der Republik!« So nannte ihr Vater sie manchmal, wenn er das zweite Glas
Rakı intus hatte. »Fünfzehn Jahre Republik und ich mittendrin!« Herrje!
An einer Straßenecke hatte ein
Blumenhändler seinen Stand aufgemacht. Am Gebäude des Roten Halbmonds gegenüber
war die gesamte Fassade von einer türkischen Fahne bedeckt. Ein Junge, der sich
nichts von dem Fest entgehen lassen wollte, fuhr auf dem Fahrrad vorbei. Zwei
Wächter kauten schlendernd an ihren Simits. Ein kleines Mädchen in
Pfadfinderkluft kam Nazli entgegen. »Auch eine Tochter der Republik!« Das
Mädchen tat Nazli leid. Ihr fiel das melancholische Lächeln ihrer Mutter ein.
»Wie hat eine Tochter der Republik zu sein?« Sie dachte an die Vorstellung, die
Männer von »modernen jungen Mädchen« hatten. In den Zeitungen wurden Umfragen
dazu veröffentlicht. »Wie sollte Ihrer Ansicht nach ein junges Mädchen
heutzutage sein?« Antwort: »Es soll im
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